Ungeklärter Millionen-Raub in Japan:Der Mann, der aus dem Nichts kam

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Es war 1968 in Japan: Jemand erbeutete 300 Millionen Yen und wurde nie gefasst. Bis heute rätselt das Land über den Raub. Der japanische Staat investierte Millionenin die Aufklärung - vergebens. 1988 verjährte die Tat, vergessen ist sie nicht: Verfilmungen, Mangas und ein Theaterstück erinnern an den legendären Raub.

Christoph Neidhart, Tokio

Er habe von der Zentrale einen Funkspruch erhalten - in seinem Auto könnte eine Bombe versteckt sein, warnte ein Polizist den Fahrer eines Geldtransports, den er im Schatten der Gefängnismauer von Fuchu kurz nach neun Uhr gestoppt hatte. Die Limousine der Nihon Shintaku Bank hatte an jenem verregneten Dezembermorgen 1968 fast 300 Millionen Yen in Alu-Kisten im Kofferraum. Es waren die Jahresend-Bonuszahlungen für 523 Arbeiter der Toshiba-Fabrik von Fuchu. Nach Kaufkraft wären das heute etwa 21 Millionen Euro.

Fuchu war damals ein unattraktiver, ländlicher Vorort von Tokio, das Gefängnis berüchtigt, die Straße entlang der hohen Mauer meist leer. Und der Polizist war gar kein Polizist. Wer er wirklich war, das weiß man bis heute nicht. Und man weiß auch nicht, wo die 300 Millionen Yen sind.

Der Täter war dem Nissan der Bank auf einem Kleinmotorrad gefolgt. Er trug eine Polizei-Uniform und einen Helm, sein Roller war weiß und sah aus wie die Motorräder, die Japans Polizei bis heute benützt.

Obwohl zeitweise über 100.000 Beamte nach dem falschen Kollegen fahndeten, kam die Polizei ihm nie auf die Spur. Das Verbrechen, das man in Japan als 300-Millionen-Yen-Raub kennt, ist längst verjährt. Für seine gescheiterte Aufklärung hat der Staat 900 Millionen Yen aufgewendet. Die Tat wurde mehrfach verfilmt, es gibt Mangas, ein Theaterstück; ein Japanisch-Lehrbuch für Ausländer widmet ihr ein Lesestück. Und natürlich greifen die Medien den Fall immer wieder auf.

Japaner sind es gewöhnt, in Rollen zu schlüpfen, die sie perfekt zu spielen suchen: den strengen Chef, den perfekten Kellner. Was sie dabei denken, behalten sie für sich. Dieses Darstellen von Rollen lernen die Kinder schon in der Schule. Das prägt auch das Verbrechen, die Anzahl der Täter, die sich als entfernte Verwandte, Beamte, Firmenvertreter oder eben als Polizisten ausgeben, ist groß. Kriminelle, die auf List und Täuschung setzen, werden gerne als besonders "japanisch" betrachtet. Manche Japaner erzählen fast verschmitzt vom 300-Millionen-Yen-Raub, bei dem ein kleiner Mann, vermutlich ein Einzeltäter, eine mächtige Bank austrickste. Und niemanden verletzte. Gemäß Fahndungsplakat war der mysteriöse Kerl 165 bis 167 Zentimeter groß und etwa 18 Jahre alt. Mehr weiß man über ihn nicht.

Die späten 1960er-Jahre waren auch in Japan eine unruhige Zeit, die Studenten protestierten gegen den Vietnam-Krieg und den Militärpakt mit den USA. Es gab politisch motivierte Bombenanschläge, schlimme Gewaltverbrechen, im Untergrund begannen sich Terror-Gruppen zu sammeln. In dieser Atmosphäre der Angst erhielt die Kokubunji-Filiale der Nihon Shintaku Bank, heute ein Teil von Mitsubishi-UFJ, anonyme Drohanrufe und vier Tage vor dem Raub einen Erpresserbrief, in dem stand, das Haus des Filialdirektors würde in die Luft gesprengt, falls am nächsten Tag an einem bestimmten Ort nicht 300 Millionen Yen deponiert würden.

Fünfzig Polizisten bewachten den Ort der Übergabe, der Erpresser tauchte nicht auf. Er hatte es wohl gar nie geplant. Doch die Drohung schien so glaubwürdig, dass die Bank ihre Angestellten zur Achtsamkeit mahnte. Und vier Leute auf Geldtransporte mitschickte statt der üblichen zwei.

Von der Bank zum Fuchu-Gefängnis sind es vier Kilometer. Zur Toshiba-Fabrik noch ein paar hundert Meter. Vor dem Gefängnis überholte der angebliche Polizist den Nissan, stoppte ihn und meldete, das Wohnhaus des Filialdirektors sei in der Tat in die Luft gesprengt worden. Damals gab es noch keine Mobiltelefone, die Leute von der Bank hatten auch kein Funkgerät. Die Zentrale fürchte, so der falsche Polizist, im Wagen könnte ebenfalls eine Bombe versteckt sein. Er ließ die Insassen aussteigen, schaute unter die Sitze und kroch, als er nichts fand, unter den Wagen. Plötzlich schossen Flammen unter dem Auto hervor, der falsche Polizist schrie: "Dynamit, die Bombe, bringt euch in Deckung." Dicker weißer Rauch stieg auf. Die vier stürzten zur Gefängnismauer, der falsche Polizist sprang in den Nissan und fuhr davon.

Erst glaubten die vier, dass so das Auto auf einem freien Feld detonieren könnte. Dabei hatte der Täter unter dem Auto eine Signalpetarde gezündet. Als sich ihr Rauch legte, stand nur noch sein falscher Polizeiroller da: eine blaue Honda, die der Dieb in eine weiße Yamaha umgespritzt hatte. Wenn man genau hinschaute, konnte man den blauen Lack unter der weißen Farbe erkennen.

Beim Fuchu-Gefängnis gab es keine Telefonzelle, es dauerte 25 Minuten, bis die Polizei Großalarm auslöste und alle Ausfallstraßen sperren ließ. Da saß der Täter mit dem Geld bereits in einem gestohlenen Toyota Corolla, den er auf einem Parkplatz bereitgestellt hatte. Beim nächsten Fahrzeugwechsel deckte er den Corolla mit einer blauen Wetterschutz-Plane ab, wie es Japaner mit Autos tun, wenn sie sie selten benützen. Dieser Corolla wurde erst vier Monate später gefunden; zusammen mit einer Alu-Kiste der Bank.

Der Täter hinterließ am Tatort und bei den Autowechseln zahlreiche Spuren, zumeist Alltagsgegenstände. Die meisten hatte er gezielt platziert, um die Polizei auf falsche Fährten zu führen. Diese verdächtigte erst einen 19-jährigen Polizisten-Sohn, der kein Alibi hatte. Fünf Tage nach der Tat beging dieser Selbstmord. Die japanische Polizei erklärte ihn danach für unschuldig. Ein anderer Verdächtigter saß zur Tatzeit in einem Examen, wurde von den Medien aber mit vollem Namen derart denunziert, dass er nie eine ordentliche Stelle fand. Auch er nahm sich später das Leben.

1988 verjährte dann auch die Frist für Zivilklagen in Japan. Seither könnte der Täter gefahrlos an die Öffentlichkeit treten. Zum 30. Jahrestag 1998 porträtierte die Zeitschrift Shukan Hoseki einen 55-jährigen Mann, der es gewesen sein wollte. Aber seine Geschichte wurde bald widerlegt.

Unklar ist, ob das Geld je in Umlauf gelangte. Die Polizei publizierte die Nummern von etwa 2000 Geldscheinen aus der Beute, davon ist bisher keiner aufgetaucht.

Und die Arbeiter der Toshiba-Fabrik in Fuchu erhielten ihre Bonuszahlungen einen Tag verspätet.

© SZ vom 04.02.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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