Ökonomen mögen Dogmen, da sind sie anderen Berufsgruppen gleich. Dogmen erleichtern das Leben, in ihnen richten viele sich ein, auch wenn die Realität sich ändert. Ein beliebtes Ökonomen-Dogma lautet: Umverteilung von oben nach unten ist ganz furchtbar gefährlich, weil sie Fleißige bestraft und Faule belohnt. Das Problem an diesem Dogma ist, dass es selber zu einer Gefahr wird. Und zwar zu einer echten: Deutschland könnte sich so sehr in Arme und Reiche spalten, dass Nachteile für die ganze Gesellschaft entstehen, auch für ihren reichen Teil. Verhindern lässt sich das nur, wenn Ökonomen und Politiker ihr Dogma opfern - und mehr Umverteilung wagen.
In den Nullerjahren driftete die Republik auseinander. Während das ärmste Zehntel der Deutschen zehn Prozent weniger Einkommen hat als vor einer Dekade, verfügt das reichste Zehntel über 20 Prozent mehr. Wer weiß, dass die meisten Bürger kaum über Vermögen verfügen, der ahnt, was das bedeutet. Der reale Lohn von Menschen mit geringer Qualifikation ist heute so niedrig wie 1985. Das kann nicht ohne Folgen bleiben.
Hochqualifizierte sind im derzeitigen Boom begehrt, weniger Ausgebildete kaum. Niedriglöhner leben heute mit wenig Geld, mit der mühsamen Suche nach dem nächsten Billigjob, der allzu oft auch nur befristet ist. Hier ist Umverteilung nötig. Es muss sich für diese Deutschen wieder mehr lohnen, zu arbeiten. Sonst werden zu viele von ihnen zweifeln, dass sich die Plackerei auszahlt. Sonst werden Sozialleistungen in Kombination mit Schwarzarbeit immer attraktiver. Sonst driften Menschen ab, die es am Arbeitsmarkt ohnehin schwer haben, für die der Beruf keine Berufung ist, sondern Broterwerb.
Die Globalisierung hat die Position vieler Arbeitnehmer verschlechtert, die Löhne sinken, die Kapitaleinkommen steigen. Die Politik ist dagegen nicht machtlos: Sie kann denen mehr abverlangen, die mehr haben. Der Berliner Wirtschaftsforscher Gert Wagner heizt die Debatte an, indem er höhere Steuern für Gutverdiener und Vermögende fordert. Jetzt ist die Chance, das Dogma von der schlechten Umverteilung aufzugeben, bevor es zu große Schäden anrichtet.
Nach der Finanzkrise opferten die Ökonomen das Dogma, der Staat solle nicht durch Zuschüsse Jobs sichern. Das war richtig: Die staatlich geförderte Kurzarbeit verhinderte Entlassungen, im Boom können die Firmen mit einer eingearbeiteten Belegschaft durchstarten. Mehr Umverteilung heißt nicht, mit der Gießkanne Geld zu verteilen, zum Beispiel durch höhere Hartz-IV-Sätze. Wer eine gering bezahlte Arbeit gefunden hat, soll mehr übrig haben.
Es lässt sich viel einsammeln
Der beste Weg dafür sind neben Mindestlöhnen eine Senkung der Sozialabgaben, die bisher auch bei Geringverdienern voll durchschlagen. Und das Geld dafür kann sich der Staat bei denen holen, die von der Globalisierung überdurchschnittlich profitieren. Eine Vermögensteuer ist mühsam zu erheben, doch bei Erbschaften, hohen Verdiensten und Kapitaleinkommen lässt sich mehr einsammeln. Es ist falsch, dass Reiche heute weit weniger von ihren Zinseinkünften ans Finanzamt überweisen, als dies die längste Zeit der Bundesrepublik der Fall war.
Die Finanzkrise brachte eine Umverteilung von unten nach oben, als alle Steuerzahler die Banken retteten, von deren Geschäften vorher nur wenige Deutsche profitierten. Nun ist es Zeit zu wenden. Mehr Belastung ist möglich, nicht für die Mittelschicht, aber für die reicheren Bürger.
Deutschland sollte den Irrweg Amerikas vermeiden, dass seine Reichen immer mehr schonte, weil davon angeblich alle profitieren. Überall dort ist der Zusammenhang zwischen Armut und Kriminalität augenfällig; der Staat hofft, dass Vermögende über Stiftungen jene Leistungen spendieren, die er zu finanzieren aufgab. Deutschland sollte eine Gesellschaft für alle Bürger bleiben, nicht für eine glückliche Handvoll.