Textilindustrie:Überraschendes Nein

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Bei Ali Enterprise hat nicht einmal der Feueralarm funktioniert. (Foto: Rehan Khan/dpa)

Die Opfer des Fabrikunglücks in Pakistan lehnen eine Millionenentschädigung des Textildiscounters Kik ab. Der Blick hinter die Kulissen zeigt, wie schwierig es ist, für alle eine gerechte Lösung zu finden.

Von Caspar Dohmen, Berlin

Der pakistanische Gewerkschafter Nasir Mansoor gehört zu den Akteuren aus der realen Welt, die kürzlich an dem Theaterexperiment von Milo Rau an der Berliner Schaubühne teilgenommen haben: einem Weltparlament, das unter anderem Regeln für globale Konzerne entwirft. Mansoor weiß ziemlich genau, welchen Bedarf die Menschen vor Ort haben, wie etwa die Opfer des Fabrikunglücks bei Ali Enterprises in der Industriemetropole Karatschi. Am 12. September 2012 waren dort bei einem Brand der Textilfabrik 259 Menschen gestorben und 45 verletzt worden.

Mansoor beriet die Hinterbliebenen und Verletzten und half ihnen, eine Opferorganisation zu gründen. Das ist ungewöhnlich, denn die Betroffenen solcher Katastrophen kennen sich gewöhnlich nicht, leben oft weit verstreut. Aber dieses Mal schlossen sie sich zusammen. Vier von ihnen verklagten sogar den Textildiscounter Kik vor einem deutschen Gericht, weil sie die Firma als Hauptabnehmer der Waren für mangelnde Sicherheitsstandards mitverantwortlich machen. Bislang weigern sich die Betroffenen auch, eine Entschädigungszahlung von mehr als fünf Millionen Dollar anzunehmen, weil sie den von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) vorgesehenen Schlüssel für die Verteilung des Geldes als ungerecht ansehen. Die ILO bestätigt, man habe sich bislang nicht verständigen können. Der Fall zeigt aus Sicht von Kritikern die Notwendigkeit für generelle Reformen bei der Abwicklung solcher Entschädigungsfälle. Was ist geschehen?

Es gibt Streit um den Verteilungsschlüssel eines internationalen Gremiums

Nach dem verheerenden Brand hatte sich Kik schnell bereit erklärt, eine Soforthilfe für die Geschädigten zu zahlen, und auch langfristige Kompensationen versprochen. Während die Soforthilfe in Höhe von einer MillionDollar rasch ausgezahlt wurde, konnte sich Kik mit den Betroffenen jahrelang nicht über die Modalitäten für weitere Entschädigungen einigen. Schließlich wurde die ILO als vermittelnde Institution in den Konflikt eingeschaltet, nicht zuletzt auf Betreiben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Zum vierten Jahrestag des Unglücks gab es im September 2016 dann eine grundsätzliche Einigung: Kik stellte weitere 5,15 Millionen Dollar für die Betroffenen zur Verfügung und erfüllte damit nach eigenen Angaben alle Leistungen für diesen Fall. Das Unternehmen knüpfte daran jedoch die Bedingung, dass die Ansprüche der Betroffenen individuell berechnet werden sollten. Die Aufgabe übernahm als neutrale Instanz die ILO. In den vergangenen 14 Monaten gelang dies der ILO aber nicht. So liegt das Geld weiter auf einem Konto. Für die Betroffenen ist das ein herber Schlag, denn sie benötigen das Geld allesamt dringend.

Die ILO hatte - angelehnt an internationale Normen - drei Anspruchsgruppen gebildet: Witwen, Eltern und Kinder. Eine Witwe erhielte demnach monatlich rund 14 000 pakistanische Rupien, umgerechnet etwa 110 Euro, sagt Mansoor vom Gewerkschaftsdachverband NTUF. Eltern sollten dagegen nur rund 2800 Rupien erhalten, umgerechnet rund 22 Euro. Die Höhe der Zahlungen an die Witwen akzeptiert die Opfervereinigung, die an die Eltern nicht. Ihre Forderung: Witwen und Eltern sollten beide in die gleiche Gruppe sortiert werden. Außerdem störten sich die Opfervertreter daran, dass ein großer Teil der Summe nicht als Einmalzahlung, sondern als Renten ausgezahlt werden solle, und sie ärgerten sich über die Empfehlung der ILO, die Pensionen aus der staatlichen Sozialversicherung zu reduzieren. Beides sollte man nicht vermengen, weil es nichts miteinander zu tun habe, sagt Mansoor.

Die Opfer werden durch den Zwist zum zweiten Mal zu Verlierern

Der Fall wäre vielleicht längst erledigt und die Entschädigungen gezahlt, wenn sich die jeweils Zuständigen seit dem Unglück nicht des Öfteren über die Köpfe der Betroffenen hinweg verständigt hätten. Kik hatte sich seinerzeit an das Institut für Arbeitsangelegenheiten (PILAR) gewandt, eine renommierte Institution, die jedoch kaum Kontakt zu den Opfern hat. Dagegen half die Gewerkschaft NTUF den Opfern, eine eigene Organisation aufzubauen. Und deren Repräsentanten haben offensichtlich schon lange kein Vertrauen mehr in PILAR. Möglicherweise spielen auch Eigeninteressen und Eifersüchteleien der Organisationen vor Ort eine Rolle, was sich jedoch von außen schwer beurteilen lässt. Ganz offensichtlich konnte die ILO die Betroffenen auch nicht davon überzeugen, dass Entschädigungen nicht willkürlich, sondern nach einem begründeten Schlüssel verteilt werden müssen, wenn alles korrekt zugehen soll.

Verfahrensbeteiligte beklagen jedoch auch die geringen Ressourcen bei der ILO für solche Fälle, was immer wieder Zeit koste, sowie die fehlende Bereitschaft der Organisation, flexibler auf die spezielle Situation der Menschen vor Ort einzugehen. Die bisherige Nichtauszahlung ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die die Schaffung eines einheitlichen Abwicklungsmechanismus für solche Katastrophen verlangen, ob bei der ILO oder anderswo. Notwendig sei auch ein klar verankerter Beschwerdemechanismus für Betroffene und Zugang zu Rechtsmitteln, sagt Berndt Hinzmann von der Kampagne für saubere Kleidung.

© SZ vom 07.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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