Technik und Theologie:Gott ist online

Lesezeit: 6 Min.

Technologie und Religion haben viel gemeinsam. Überlegungen zu "Smombies", Engeln und einem digitalen Pfingstwunder.

Von Johan Schloemann

Ist das jetzt das Pfingstwunder der globalen Verständigung? Wenn die ersten Smartphone-Hersteller eine Sättigung am Markt erreicht haben, also bald jeder eines hat? Wenn, wie jetzt auch in Deutschland, überall die letzten Hürden fallen für ein freies Wlan für alle Menschen und alle Dinge? Die unendliche Kommunikation erfasst die universale Netzgemeinde wie eine Zungenrede, wie ein Brausen, ein mal lautes, oft aber auch eher stilles, unsichtbares Brausen. Und nein, die Leute sind gar nicht betrunken, wie der Apostel Petrus zu Pfingsten versicherte - sie erfüllen nur eine alte Prophetie: "Ich will ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch."

Digitalisierung und Erweckung sind immer schon eng verwandt. Das geht über einschlägig religiöse Zonen im Internet weit hinaus - also etwa Koran- oder Bibel-Apps, virtuelle Friedhöfe, "Chat-Andachten", twitternde Päpste und Ähnliches mehr. Der ganze kalifornische Digitalkapitalismus, der nunmehr vielen gnadenlos erscheint, ist aus Erlösungshoffnungen der Hippiebewegung und der New-Age-Spiritualität hervorgegangen. Der kultische Charakter von Apple-Store-Eröffnungen entgeht inzwischen niemandem.

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Das Internet ist ein allwissender, allgegenwärtiger, immaterieller, ungreifbarer Gott, ein deus absconditus. Diese umfassende Überwachung durch "das System" ist dem milliardenfachen Zusammenhang einzelner User geschuldet, die jeder für sich Augen jenes Gottes sind und zugleich von solchen permanent angeschaut werden. Die vernetzte Menschheit entsendet aber auch Avatare, "Profile", diverse Engelsfiguren, eine hochmobile Selbstvergottung, während die eigentlichen Körper die Wege nicht mitgehen.

Was "Smombies" mit Europas erstem Philosophen zu tun haben

Manche sprechen schon von "Smombies", die herumlaufen, aber von ihrem konkreten leiblichen Umfeld abgelöst sind. Thales, der erste Philosoph Europas, soll einmal in einen Brunnen gefallen sein, weil er sich zu intensiv mit den Rätseln des Himmels beschäftigte. Ähnliches passiert heute, nur dass der Blick in andere Sphären meist nach unten gerichtet ist. Es geht hier also keineswegs nur um bestimmte Inhalte im Netz - die gesamte Architektur hat sakrale, transzendente Eigenschaften.

Zugegeben: Religiöse Metaphorik und das Aufspüren von Kryptotheologie sind so etwas wie die Allzweckwaffe der Kulturwissenschaften (und nicht zuletzt des Feuilletons). Damit wird auch einiges Schindluder getrieben, wenn überall in der Gegenwart magische, untergründige Wirkungen von Heiligem und von Glaubenswelten vermutet werden. Dieses Verfahren nennt man gerne bedeutungsschwanger "Genealogie". Aber das numinose Netz ist tatsächlich viel mehr als eine vage Spekulation. Es beeinflusst unser Denken, Reden, Handeln.

Ein genialer, kleiner Aufsatz vergleicht Cyberspace und Theologie

Vor 20 Jahren hat der Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme in einem genialen kleinen Aufsatz mit dem Titel "Zur Theologie der Telepräsenz" die Fährte gelegt. Es war genau der Moment, als das Internet anfing, zum Massenphänomen zu werden. Damals, 1996, fiepten noch viele Modems, und das Anklicken von Bildern, die sich schleichend aufbauten, war das höchste der multimedialen Gefühle. Hartmut Böhme aber beschrieb bereits den Cyberspace als den neuen Kult nach dem Tode Gottes. Er fing an, "die theologischen Rhetoriken der neuen Propheten und Hohenpriester zu analysieren".

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Böhme verglich seinerzeit die Netzkommunikation mit der "Sprache der Engel" bei Emanuel Swedenborg, dem mystischen Philosophen und Gegner von Immanuel Kant. Der "Geisterseher" Swedenborg hatte sich ausgemalt, wie zwischen den permanent verbundenen Engeln jedes Signal vollständig und ohne Reibungsverluste übermittelt werde, ohne menschliche Missverständnisse, also genauso wie die digitale Kopie. Ein supersoziales Netzwerk der himmlischen Heere!

Und Hartmut Böhme sah 1996 auch schon, selber prophetisch: Trotz der vordergründig sichtbaren "politökonomischen Funktionen" der Digitalisierung ziele das zugrunde liegende Denken zugleich nicht nur auf die Verbesserung der Welt ab, "sondern auf den Ausstieg aus ihr". Die Sehnsucht nach klugen Maschinen sei stark, weil im Abendland seit Langem "Erde und Leib insgeheim mit dem religiösen Stigma der Heillosigkeit und der Verdammnis belegt sind". Selbst die Erotik im Netz ist ja scheinbar körperlos und soll so frei von Sünden machen.

Solche Spuren kann man aufnehmen, weil technische Innovation und Heilshoffnung schon seit Langem miteinander einhergehen - nicht erst seit Erfindung der Elektrizität, dem heiligen Strom, aber da besonders inbrünstig. Die neuzeitlichen Naturwissenschaften waren ja insgesamt aus der christlichen Universität des Mittelalters erwachsen. Das heißt auch: Der vermeintliche Gegensatz von Glauben und (technischem) Wissen - und damit die beliebte Vorstellung, das Wissen löse gar den Glauben auf - ist zugleich auch eine sehr innige Beziehung.

Für Francis Bacon, den Paten des wissenschaftlichen Empirismus, war in seiner Utopie "New Atlantis" (1627 postum erschienen) die Entwicklung der Technologie zur Beherrschung der Natur zugleich eine Vollendung der göttlichen Schöpfung auf Erden. Physiker, Chemiker, Ingenieure der frühen Neuzeit - bis hin zu den Naturforschern zur Zeit von Charles Darwin - suchten in ihren Experimenten auch den vernünftigen Plan Gottes nachzuweisen.

Die Technik ist ein Geschenk an den Menschen

Und natürlich: In der heutigen Gemengelage von Gewöhnung und Skepsis, was den technischen Fortschritt angeht - nach Atom- und vor Klima-Katastrophen - muss man sich wieder daran erinnern: Die Technik, die sich der Erforschung von Naturgesetzen verdankt, ist auch ein Riesengeschenk an den Menschen, um Abstand von der Notwendigkeit und vom Selbst zu gewinnen - eine Befreiung. Mit der Zeit sah man dann aber auch die gleichzeitigen Risiken der selbstgeschaffenen Schöpferrolle, einschlägig formuliert von Sigmund Freud, als er vom "Prothesengott" sprach.

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An der berühmten Stelle im "Unbehagen der Kultur" von 1930 heißt es: "Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe - die motorischen wie die sensorischen - oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg." Freud erwähnt dann beispielshalber Motoren, Feuer, Häuserbau, Landnahme, Flussregulierung, Schifffahrt, Brille, Fernrohr, Mikroskop, Schrift und Telefon.

Und schreibt weiter: "Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen." Das liest sich wie ein Gruß ins Smartphone-Zeitalter mit seinen Gesundheits-Apps. Und auch mit Blick auf die makellose Reinheit und Jungfräulichkeit unserer Benutzeroberflächen erscheint Sigmund Freud hellsichtig, wenn er an selber Stelle feststellt: "Unsauberkeit jeder Art scheint uns mit Kultur unvereinbar."

Roboter als paradiesische Entlastung - oder als Untergang des Menschen

In den letzten Jahrzehnten nun hat man für die Beschreibung der Digitalisierung und Vernetzung diverse Prophetien durchgespielt: das gelobte Land und die "New Frontier" der Wildwest-Siedler, die globale Architektur der Server als himmlisches Jerusalem. Der amerikanische Gegenkultur-Guru Steward Brand rief die große Kybernetik-Kommune aus, der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan die erdumspannende "Noo-sphäre", ungefähr das lebendige Weltwissen, an dem heute Google und viele andere arbeiten.

Der in New York lehrende Religionswissenschaftler Robert M. Geraci wiederum zeigt in seinem Buch "Apocalyptic AI. Visions of Heaven in Robotics, Artificial Intelligence, and Virtual Reality" (2010): Die post- und transhumanistischen Visionen der künstlichen Intelligenz sagen teils eine paradiesische Entlastung des Menschen als Ende der Geschichte voraus - teils aber beschwören sie auch eine dem Jüngsten Gericht gleichende Eroberung des Bewusstseins durch die Maschinen, also einen apokalyptischen Untergang der Spezies, wie wir sie kennen. Das Reden und Denken über intelligente Roboter hatte von Anfang an bis heute eschatologische und utopische Züge, was die Natur des Menschen angeht.

20 Jahre nach dem Aufsatz von Hartmut Böhme nun hat das neue Evangelium des Prothesengotts noch einmal ganz andere Dimensionen angenommen, als man sich das 1996 auch mit viel Fantasie vorstellen mochte: mit dem Echtzeit-Netz, der explodierenden Mobilität und auch der biotechnischen Forschung. Man bestaunt, bevor man sich dann auch wieder schnell daran gewöhnt, die scheinbar mühelose Providenz der Cloud - die herkömmliche göttliche Vorsehung ist ja auch so eine Art ständiger Hintergrundaktualisierung. Dazu gehört, dass man den Überblick verliert, wer eigentlich wen kontrolliert, beobachtet, beherrscht.

In der Lage ist es auffällig, dass Technik und Theologie ihren Dialog auf eine neue Stufe bringen. Vor ein paar Tagen hielt die Wissenschaftssoziologin Sabine Maasen einen Vortrag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Titel: "Immanente Religion - transzendente Technologie?"

Allein diese Konstellation war schon bezeichnend: Sabine Maasen leitet an der TU München das "Munich Center for Technology in Society", sozusagen einen Meta-Thinktank der technischen Wissenschaften; eingeladen und eifrig befragt wurde die Professorin aber von prominenten Religionswissenschaftlern wie Friedrich Wilhelm Graf. Und alle waren sich einig, dass sie viel voneinander lernen können.

Der intelligente Kühlschrank: vollkommene Versorgung oder totale Vereinsamung

"Wir deuten Technologie ständig religiös" - "Technik transzendiert das Vorfindliche per Definition" - "Man muss die Transzendenz-Hinweise der Digitalisierung Ernst nehmen" . . . Solche Aussagen kamen bei dieser Begegnung gerade nicht von den historischen Wissenschaften und den Theologen, sondern eben von der Vertreterin einer der weltweit führenden technischen Universitäten.

Sabine Maasen führte aus, wie noch unverstandene Technologien wie das "Internet der Dinge" große Sehnsüchte wie auch Dystopien erzeugen, und sie verwies auf das Beispiel des intelligenten Kühlschranks: Er verheißt wahlweise die vollkommene Versorgung oder die totale Vereinsamung. Beides aber hat nach Sabine Maasen, bei einer weiten Verwendung des Begriffs, religiöse Züge. Und sie erinnerte daran, dass große Teile der menschlichen Kultur von vornherein schon den Charakter der "Virtualität" haben - Mythen, Tempel, Abstraktionen, auch Abendmahl und Meditation.

Der Gang der Digitalisierung spricht gegen die These der fortschreitenden Entzauberung, die der Soziologe Max Weber annahm. Die neue Technik wird so zauberhaft und mit uns verwachsen sein, dass sie uns fast untechnisch, gottgegeben erscheint. Daran ändert auch die im Moment virulente Internet-Kritik von links wenig, also die Enttäuschung über verpasste Partizipationschancen im digitalen Kapitalismus (wie in neuen Büchern von Felix Stalder und Harald Welzer). Das sind nur ein paar Häretiker. Die totale Kommunikation wird hingegen zum Erweckungsselbstzweck wie beim Pfingstwunder. Das Brausen ist groß, die Transformation ist riesig - aber die Heilsrichtung ist offen.

© SZ vom 14.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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