SZ-Serie: Die großen Spekulanten (26):Oops!

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Der kleine Devisenhändler John Rusnak spaziert eines Tages aus seiner Bank, hinterlässt ein Loch von 691 Millionen Dollar und kehrt nie wieder zurück.

Harald Freiberger

Im Mai des Jahres 2000 erscheint der Song "Oops! . . . I Did It Again" der jungen amerikanischen Gesangskünstlerin Britney Spears. Der frühere Kinderstar sagt der Welt mit dem Lied: Jetzt ist es passiert, einfach so, und ich habe es nicht nur einmal getan.

Wofür das "es" steht, bleibt in der Schwebe, was die Sache noch interessanter macht. Der Ausdruck "Oops" bürgert sich danach nicht nur in Amerika in den Sprachgebrauch ein, sondern zum Beispiel auch in Deutschland. Wo man früher "hoppla" gesagt hätte, sagt man jetzt oops.

Knapp zwei Jahre später, am 9. Februar 2002, trägt ein Artikel des renommierten britischen Wirtschaftsmagazins Economist die einfache Überschrift "Oops".

"Vom FBI gegrillt"

Es geht darin um einen sauber gescheitelten 37-jährigen Biedermann aus Baltimore an der amerikanischen Ostküste. Er werde "gerade vom FBI gegrillt", heißt es in dem Artikel. Noch ist vieles unklar, man weiß nur, dass sein Arbeitgeber, die Allfirst Bank, geschätzte 750 Millionen Dollar durch Devisenspekulationen verloren hat. Schuld soll der junge Mann sein. Sein Name: John Rusnak. Die Überschrift will sagen: Viel Geld ist verschwunden, einfach so. Oops!

Auch wenn ihn die Fahnder vom FBI grillen, muss Rusnak nicht ins Gefängnis - zumindest vorerst nicht. Nach dem Verhör darf er zurück in sein Haus in einem grünen Vorort von Baltimore, wo ein halbes Dutzend Journalisten in der Februarkälte auf ihn wartet.

Das schnuckelige Eigenheim ist beige getüncht, es gibt eine große Veranda und eine hölzerne Außentreppe. Darin wohnt Rusnak mit seiner Frau Linda und zwei Töchtern.

Er lebt nach außen ein beschauliches Leben. Nach der Arbeit widmet er sich der Familie. "Er war ein Ehemann, der niemals ausging", sagt ein Nachbar. Ein Kollege beschreibt ihn als "einen harten Arbeiter, einen guten Arbeiter". Einmal richtet Rusnak für seine Tochter und ihre Freundinnen einen etwas aufwendigeren Kindergeburtstag aus: mit Ponyreiten.

Ansonsten keine Extravaganzen. Rusnak ist Mitglied im Elternbeirat der Schule seiner Tochter. "Solche Leute sind die Säulen der Gesellschaft", diktiert ein anderer Nachbar den Reportern in den Block. Rusnak selbst sagt nichts zu ihnen. Ab und zu fährt ein Wagen der Polizei vor dem Haus vorbei.

Was hat sich in den fünf Jahren davor hinter der bürgerlichen Fassade abgespielt? Rusnak ist gelernter Banker, er arbeitete ein paar Jahre an der Wall Street, doch an der Börse war es ihm zu hektisch.

Deshalb sucht er sich 1993 einen neuen Job bei der Allfirst Financial Inc., einer Bank mit 250 Filialen in Amerika, nicht groß, nicht klein. Das Institut gehört der Allied Irish Bank, einem großen Institut in Irland, dem es auf dem Heimatmarkt zu klein geworden ist und das deshalb nach Amerika expandierte.

Rusnak arbeitet in Baltimore in der Devisenabteilung seiner Bank, einer nach den Maßstäben der Wall Street geradezu lächerlich kleinen Abteilung. Sie besteht aus ihm und einem zweiten Mann, seinem Vorgesetzten.

Ein Verbrechen führt zum nächsten

Sie teilen sich einen Bildschirm der Nachrichtenagentur Reuters, auf dem sie die Devisenkurse ablesen. Im Jahr 1997 muss für Rusnak irgendetwas schiefgelaufen sein, denn da fängt er an, seine Kompetenzen zu überschreiten. Er spekuliert auf den Kurs des Dollar zum Yen. Er erleidet einen hohen Verlust. Oops. Was danach passiert, darüber lassen sich nur Mutmaßungen anstellen. Auch vor Gericht gibt Rusnak später seine Motive nicht preis.

Die gängigste Interpretation geht so, wie man es von großen Kriminalfällen kennt: Ein kleines Verbrechen führt zu einem größeren, das größere zu einem noch größeren.

Der erste Verlust ist offenbar zu hoch, um ihn dem Vorgesetzten zu beichten. Rusnak will das Geld auf eigene Faust wieder hereinholen, deshalb schließt er ein noch größeres Devisengeschäft ab. Danach stopft er wie bei einem Schneeballsystem die Löcher immer wieder, indem er neue Deals macht. Über Jahre geht das gut.

Auf der nächsten Seite: Wie Rusnak seine Vorgesetzten täuschte

Kritisch wird es Anfang 2001, also ein Jahr, bevor er auffliegt. Rusnak setzt auf einen steigenden Yen zum Dollar, doch die japanische Währung fällt. Um seine Vorgesetzten zu beruhigen, fängt er an, Optionsgeschäfte abzuschließen, die das Devisengeschäft vermeintlich absichern. Doch die Optionen sind fingiert. Sie existieren gar nicht. Damit die Täuschung funktioniert, fälscht Rusnak Faxe von großen Partnerbanken, mit denen er schon länger in Geschäftskontakt steht.

Er macht auch reale Geschäfte mit diesen Banken, darunter große Adressen der Finanzwelt: Citigroup, Bank of America, auch Deutsche Bank. Die Geschäfte werden immer größer, Rusnak setzt Millionen Dollar ein. Einmal, im Sommer 2001, fragt die Citibank bei Allfirst nach, ob alles mit rechten Dingen zugehe. Der Finanzchef zerstreut die Bedenken.

Kein Starhändler

Noch ein halbes Jahr spielt Rusnak sein Spiel. Niemand merkt etwas, zu Hause gibt er weiter den treu sorgenden Familienvater. Seine Bank zahlt ihm zwischen 1997 und 2001 sogar Boni von mehr als 650.000 Dollar aus - zusätzlich zu seinem Jahresgehalt von etwa 80.000 Dollar, was für einen Devisenhändler nicht viel ist. "Er war alles andere als ein Starhändler", sagt die Chefin der Bank später vor Gericht.

Rusnak überzeugt seine Vorgesetzten, auch auf seinem Laptop Handelssoftware zu installieren. So kann er von zu Hause aus und im Urlaub Geschäfte und Scheingeschäfte machen. Dabei schreibt die US-Wertpapieraufsicht Devisenhändlern eine Zwangspause von mindestens zehn Tagen im Jahr vor, damit Betrügereien ans Licht kommen können.

Rusnaks Betrügereien kommen erst ans Licht, als Anfang des Jahres 2002 Optionen in großem Umfang fällig werden. Die Wetten sind für ihn in die falsche Richtung gelaufen. Er müsste jetzt viel Kapital nachschießen - Kapital, das er nicht hat. Ihm ist klar, dass er seinen Arbeitgeber informieren müsste. Am Abend des 5. Februar 2002 spaziert er aus seiner Bank, er weiß, dass er ein Loch von mehreren Hundert Millionen Dollar hinterlässt. Am nächsten Morgen kehrt er nicht mehr an seinen Schreibtisch zurück. Er stellt sich dem FBI.

Das Gericht verurteilt ihn ein Jahr später zu siebeneinhalb Jahren Haft. Es stellt fest, dass Rusnak seine Bank nicht um Geld betrügen wollte, sondern die dubiosen Geschäfte eingegangen ist, um eigene Fehler zu verdecken. Selbst bereichert hat er sich nicht.

Allfirst beziffert den Schaden, den Rusnak verursacht hat, später auf genau 691 Millionen Dollar, was nicht existenzbedrohend ist. In der Bilanz für 2001 steht trotzdem noch ein Gewinn von fast 400 Millionen Dollar. Die irische Mutter Allied Irish Bank entlässt bei ihrer amerikanischen Tochter sechs Mitarbeiter aus dem mittleren Management und verschärft die Kontrollen. Die obersten Chefs bleiben alle im Amt. Kurz darauf verkauft Allied Irish die Tochter Allfirst.

Der Betrugsfall ist der größte, seitdem Nick Leeson 1995 in Südostasien 1,4 Milliarden Dollar verspekuliert und damit die britische Barings-Bank in die Pleite getrieben hat. Leeson meldete sich über die Presse zum Fall Rusnak. "Die Inkompetenz ist schockierend", sagte er. Schließlich wisse niemand besser als er selbst, mit "welch einfachen Kontrollen man mich hätte schnappen können".

Anders als Leeson sitzt Rusnak immer noch im Gefängnis. Wenn er entlassen wird, muss er fünf Jahre lang jeden Monat 1000 Dollar Strafe zahlen. Trotzdem ist er vermutlich ein glücklicherer Mensch als Britney Spears, die in eine tiefe psychische Krise geraten ist, das Sorgerecht für ihre beiden Kinder verloren hat und bei ihren seltenen Auftritten den Text von "Oops! . . . I Did It Again" vergisst.

© SZ vom 22.7.2008/hgn - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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