Streit um den Stabilitätspakt:Regierung: Defizit bei "vier Prozent plus X"

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Die deutschen Staatsschulden werden 2003 stärker wachsen als jemals zuvor: Die Bundesregierung erwartet nach Informationen der Süddeutschen Zeitung, dass das Defizit bei mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts liegen wird, und damit noch höher ist als beim Schuldensünder Frankreich.

Von Gerhard Bläske, Alexander Hagelüken und Ulrich Schäfer

(SZ vom 07.10.03) - Allein Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) wird sich nach Angaben aus Regierungskreisen mehr als 40 Milliarden Euro leihen müssen - und damit mehr als doppelt so viel, wie ursprünglich geplant war.

Deutschland und Frankreich haben ähnliche Probleme: Die Nettokreditaufnahme seit 1980. (Foto: Grafik: sueddeutsche.de)

In der zweiten Oktoberhälfte will Eichel dem Kabinett einen Nachtragshaushalt vorlegen, der ihm eine zusätzliche Kreditaufnahme von mindestens 22 Milliarden Euro erlaubt; die genaue Höhe wird gerade von Eichels Haushaltsexperten ermittelt.

Gleichzeitig drohen weitere Milliardenlöcher in den Etats der Bundesländer und Gemeinden sowie in der Sozialversicherung, deren Minus ebenfalls in die Berechnung des Maastricht-Kriteriums mit einfließt.

3,8 Prozent sind nicht mehr zu halten

Angesichts dieser Entwicklung ist das revidierte Schuldenziel von 3,8 Prozent, das die Regierung erst vor fünf Wochen nach Brüssel gemeldet hat, nicht mehr zu halten. "Es kann sein, dass es noch etwas mehr wird", hatte Eichel bereits am Wochenende angedeutet.

Im Klartext heiße dies, wie Regierungskreise erläutern, dass die Kreditaufnahme von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialkassen insgesamt bei "vier Prozent plus X" des Bruttoinlandsprodukts liegen werde.

So sind die Steuereinnahmen nach einem Zwischenhoch im Juni und Juli wieder eingebrochen. Gleichzeitig wachsen die Löcher in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Allein der Griff in die eiserne Reserve der Rentenkasse, die so genannte Schwankungsreserve, wie ihn Sozialministerin Ulla Schmidt derzeit anstrebt, würde das deutsche Maastricht-Defizit um weitere 0,1 Prozentpunkte nach oben treiben; hinzu kommen die zusätzlichen Ausgaben für die Arbeitslosigkeit. Das drohende Minus bei den Steuereinnahmen von bis zu drei Milliarden Euro erhöht das Defizit ebenfalls um weitere 0,1 bis 0,2 Prozentpunkte.

Erstmals über Vier-Prozent-Marke

Deutschland wird damit erstmals seit Einführung des Euro die Vier-Prozent-Marke beim Schuldenlimit überschreiten und sich damit womöglich noch stärker verschulden als Frankreich.

Die Regierung aus Paris hatte bereits Ende August eingeräumt, dass das Defizit im Jahr 2003 bei vier Prozent liegen werde - und zudem erklärt, man werde auch im nächsten Jahr nicht die vorgeschriebene Drei-Prozent-Grenze einhalten.

Die EU-Kommission hat sich deswegen bereits auf eine schwere Auseinandersetzung mit Paris eingestellt. Finanzkommissar Pedro Solbes hatte Paris im Juni aufgefordert, bis zum 3. Oktober Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, das Defizit nach der Verfehlung in diesem Jahr 2004 wieder in Einklang mit den europäischen Schuldenregeln zu bringen.

Ernsthafte Sanktionen drohen

Diesen Termin ließ Paris verstreichen, ohne den Haushaltsentwurf, der einen Fehlbetrag von 3,6 Prozent vorsieht, zu ändern; nun drohen ernsthafte Sanktionen aus Brüssel.

Bei einem Zusammenkommen im Rahmen des deutsch-französischen Wirtschaftsrates in Trier bemühte Frankreichs Finanzminister Francis Mer sich deshalb am Montag um einen Schulterschluss mit Eichel. An diesem Dienstag wollen auch die EU-Finanzminister bei ihrem monatlichen Treffen in Luxemburg über den Fall beraten.

"außergewöhnliche Umstände"

Insbesondere kleinere und stabilitätstreue Länder wie die Niederlande und Österreich dürften scharfe Kritik an Frankreich üben. Mer argumentiert, seit Juni habe sich die konjunkturelle Situation in seinem Land erheblich verschlechtert. Er plädiert auf "außergewöhnliche Umstände", womit eine Überschreitung der Drei-Prozent-Grenze ohne Strafe erlaubt wäre. Der Generaldirektor von Finanzkommissar Solbes, Klaus Regling, will einen solchen Ausnahmetatbestand aber nicht erkennen.

Sanktionen gegen Frankreich werden die Finanzminister noch nicht beschließen. Zunächst wird die Kommission im Laufe des Monats wirtschaftspolitische Auflagen für das Defizitland ausarbeiten. Mer hofft auf Kompromissbereitschaft Brüssels, etwa wenn sich Frankreich verpflichten würde, das strukturelle Defizit statt um 0,7 um einen Prozentpunkt zu senken.

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