Soziales Netzwerk:Ruhm in 15 Sekunden

Lesezeit: 5 min

So wie die junge Amerikanerin Matty Nev Luby, die hier synchron zu einem Musikstück singt, nutzen viele Jugendliche Apps wie Tiktok. (Foto: Hill/AP)

Musik, Tanzen und Comedy - all das leben Jugendliche in sozialen Netzwerken aus. Schwer im Kommen ist bei Jüngeren die App Tiktok. Was hat es damit auf sich?

Von Caspar von Au, München

Ein Mädchen wippt rhythmisch zu einem Elektrobeat vor der Kamera. Sie überkreuzt die Arme, legt beide Zeigefinger auf die jeweils entgegengesetzten Nasenflügel und öffnet die Arme wieder. Für eine Sekunde sieht es so aus, als hätte das Mädchen Knochen aus Gummi. Der Trick ist uralt, Niveau Pausenclown. Doch unter Tiktok-Usern zieht er. Rund 1,4 Milliarden Mal wurden die Videos der sogenannten #omgchallenge in den vergangenen Monaten aufgerufen. Sie fassen aber auch gut zusammen, was Tiktok ausmacht: Musik, Tanzen und Comedy.

Was ist Tiktok?

Tiktok ist ein soziales Netzwerk. Facebook ist bei Teenagern aus der Mode, bei Tiktok dagegen steigen die Nutzerzahlen gerade bei jungen Menschen. Zentrales Element der App sind kurze, mit dem Handy gedrehte Videos, die der Nutzer mit Musik unterlegen kann. Die Idee: maximal 15 Sekunden Länge. "Make every second count", lautet daher auch Tiktoks Slogan. Jede Bewegung, jede Pointe muss sitzen, denn für Erklärungen bleibt keine Zeit. Gefällt ein Video, verteilt man durch doppeltes Antippen ein Herz oder folgt dem Nutzer. Das Design der App sorgt dafür, dass man schnell zum nächsten Video kommt: Eine junge Frau bewegt die Lippen synchron zu einem Sketch von Carolin Kebekus und schneidet passende Grimassen, sie bekommt dafür 120 000 Herzen. Ein Wisch nach oben und das nächste Video wird abgespielt. Zwei maskierte Männer in gelben Jogginganzügen tanzen zu Technomusik in der Fußgängerzone, mehr als 500 000 Herzen.

Warum ist die App so beliebt?

"Es ist total einfach, nicht nur Videos zu konsumieren, sondern selbst auch welche zu kreieren", sagt Charles Bahr. Der 16-Jährige leitet trotz seines jungen Alters schon eine eigene Marketingagentur. Er wird auch für Vorträge auf Branchenmessen wie der Republica oder der Dmexco eingeladen. Denn Bahr berät Unternehmen dazu, wie man die Generation Z erreicht, junge Menschen, die nach 1997 geboren sind.

Tatsächlich ist das Erstellen und Bearbeiten von Tiktok-Filmchen leicht. Die Videos lassen sich in beliebig vielen Abschnitten schrittweise filmen. Dem Nutzer steht eine ganze Bibliothek von Effekten und Filtern zur Verfügung, um das Video aufzupeppen. Die Gefilmten können etwa virtuelle Wörter wegboxen, anstelle des Gesichts ein Ei auf die Schultern setzen oder Videoteile rückwärts laufen lassen. Wahlweise unterlegt man das Video noch mit einem kurzen Soundclip, dem Originalton oder eben einer Mischung aus beidem.

Kernzielgruppe der App sind elf- bis 15-jährige Kinder und Jugendliche, schätzt Bahr. Offiziell ist die Nutzung erst ab 13 Jahren erlaubt. Daran halten sich offenbar nicht zu viele. "Ich war auch schon viel früher auf Tiktok", sagt die 15-jährige Leonie, deren Nachname nicht in diesem Artikel stehen soll. Hunderttausende Fans folgen ihrem Account. "Ich kann dort kreativ sein, egal, ob es um Beauty oder Sport geht." Täglich lädt sie kurze Tanzclips von sich hoch, in denen sie ihre langen Haare in Zeitlupe fliegen lässt. An Tiktok gefalle ihr, dass man so einfach mit anderen Nutzern in Kontakt treten und auf deren Videos reagieren könne. Das geht zum Beispiel mit der Duett-Funktion: In Tiktok befreundete Nutzer können ein Video zum selben Lied erstellen, beide Videos werden nebeneinander angezeigt.

Wie viele Menschen nutzen sie?

Im Juni 2018 sollen nach Medienberichten weltweit etwa 500 Millionen Menschen die App jeden Monat genutzt haben - die meisten davon in allerdings noch in China. Seitdem dürften die Nutzerzahlen noch einmal deutlich angestiegen sein. Denn im August fusionierte das Unternehmen die Mitsing-App mit der sehr ähnlichen App Musical.ly. Diese hatte Bytedance im November 2017 für fast eine Milliarde US-Dollar aufgekauft. Musical.ly brachte rund 100 Millionen aktive Nutzer mit. Wie das Newsportal Digiday berichtet, sollen in Deutschland 4,1 Millionen Menschen Tiktok jeden Monat nutzen. Dem Marktforschungsunternehmen Sensortower zufolge war Tiktok im vergangenen Jahr in Apples App Store die weltweit beliebteste App, auch im Android-Store war sie sehr weit oben.

Wer sind die Stars in Tiktok?

Zwillinge stehen unter Tiktok-Nutzern offenbar hoch im Kurs. Die weltweit größten Stars sind Lisa und Lena aus Stuttgart. Der Account der beiden 16-Jährigen hat mehr als 32 Millionen Fans, schon in der Vorgänger-App Musical.ly waren die beiden Mädchen mit ihren synchronen Choreographien sehr erfolgreich. Mittlerweile vernachlässigen Lisa und Lena ihren Tiktok-Account fast schon ein bisschen. Sie haben aus ihrer Bekanntheit ein richtiges Geschäftsmodell gemacht: Auf Instagram posten sie regelmäßig Fotos von sich, über ihr Modelabel J1MO71 verkaufen sie Portemonnaies, Badeschlappen und Pullover. "Sie sind aus Tiktok heraus gewachsen", sagt Influencer-Experte Bahr. "Früher war Youtube häufig das Sprungbrett für Influencer." Heute sei es Tiktok. Denn die Möglichkeiten für Unternehmen, die App werblich zu nutzen, seien bisher begrenzt. Wer mit seiner Reichweite Geld verdienen, beruflicher Influencer werden will, muss derzeit noch auf andere Plattformen ausweichen. Doch Betreiber Bytedance plant offenbar, demnächst auch Werbung für europäische Nutzer einzuführen. Dann wäre Tiktok auf einen Schlag nicht mehr nur ein großes soziales Netzwerk, sondern auch eine lukrative Plattform für Profis - sehr junge Profis.

Worauf sollten Eltern achten?

Jugendschützer und Datenschützer sehen Tiktok kritisch. Denn Kinder geben dort oft viel von sich preis - und das kann Menschen mit bösen Absichten anlocken. Das Portal Mobilsicher, das vom Justizministerium gefördert wird, berichtete zuletzt, dass Nutzer zum Beispiel Videos von bauchfrei tanzenden Acht- oder Neunjährigen in Listen sammelten und zur Verfügung stellten. Auch werde immer wieder versucht, junge Mädchen über Tiktok zu kontaktieren, heißt es in dem Bericht. Ein Problem, das auch schon beim Vorgänger Musical.ly kritisiert wurde.

Nach wie vor hat die App offenbar auch mit Mobbing zu kämpfen. Wer die App im Google Play Store aufruft, stößt schnell auf Erfahrungsberichte über Beleidigungen und Hasskommentare. Nutzer bezeichnen Tiktok dort zum Beispiel als "reinste Mobbing-App". In den Kommentaren unter einigen Videos findet man dafür Bestätigung. Das Video einer Nutzerin, die ein Kopftuch trägt, kommentieren einige Zuschauer mit "Ausländer raus"; andere Filmer werden als fett oder hässlich beleidigt.

Eine Sprecherin von Tiktok teilt auf SZ-Anfrage mit, man habe "eine Reihe von Maßnahmen" ergriffen, um die Nutzer vor Missbrauch zu schützen. Außerdem gebe es etliche Filter, eine Melde-Funktion und ein Moderationsteam, das unangemessene Inhalte entferne und Accounts sperre. Der Schutz vor Missbrauch solle kontinuierlich verbessert werden, beteuert die Sprecherin des Unternehmens zudem.

Die Mehrheit der Zuschauer springt bei Tiktok meist dem Attackierten zur Seite und weist die Mobber zurecht. Marketing-Berater Charles Bahr sieht deshalb auch weniger Probleme. Er nehme kaum Hasskommentare und vorwiegend positive Inhalte wahr. Die Altersbegrenzung der App hält er nicht für sinnvoll - ähnlich wie die 15-jährige Leonie, die auf Tiktok mit ihren Tanzvideos bekannt geworden ist. "Man muss halt nachdenken, bevor man etwas postet", sagt die Influencerin etwas lapidar. "Aufklärung", sagt Bahr, "wird nicht durch Verbote stattfinden." Es brauche vielmehr eine Funktion, die Eltern die Plattform erklärt und Möglichkeiten bietet, notfalls einzugreifen. Das sieht auch Leonie so: Ihre Eltern überwachen den Account.

Ähnliches empfiehlt auch die Initiative "Schau hin!" des Familienministeriums: Väter und Mütter sollten mit ihren Kindern darüber sprechen, wie die App funktioniert und welche Videos sie hochladen. Wichtigster Tipp: Den Tiktok-Account in den Profileinstellungen unter "Privatsphäre und Sicherheit" auf privat stellen und nur Freunden erlauben, einen zu kontaktieren oder die Videos zu kommentieren.

© SZ vom 13.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: