Kolumne: Silicon Beach:Lob der Technik

Lesezeit: 3 min

Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Die Technikbranche hat derzeit wahrlich nicht den besten Ruf . Gerade an der amerikanischen Westküste zeigt sich indes: Der technologische Fortschritt mag mit Problemen verbunden sein, grundsätzlich aber ist er ein Segen.

Von Jürgen Schmieder

Die Erleuchtung ereignet sich um exakt 8.47 Uhr, also zwischen dem ersten Kaffee am Morgen und dem täglichen Nervenzusammenbruch, an den man sich angesichts der Coronavirus-Pandemie und der damit verbundenen Restriktionen (die ganze Familie sitzt am Wohnzimmertisch: Vater und Mutter arbeiten im Home-Office, der Sohn darf die Schule lediglich virtuell besuchen) schon gewöhnt hatte. Doch dann passiert es.

Der Bub lädt einen Mathe-Test herunter. Er wird beim Beantworten all der Fragen gefilmt, damit er nicht schummeln kann. Er zückt sein Handy, macht ein Foto von dem ausgefüllten Blatt und lädt es in die Schul-Cloud hoch. Nur fünf Minuten später bekommt er das Ergebnis mitgeteilt: alles richtig. Der Sohn hebt die Augenbrauen, weil er weiß, dass ihm seine Eltern dieses Ergebnis nicht zugetraut hätten. Er fragt, und es ist wichtig zu wissen, dass er vor allem seinen Vater für ein Relikt aus einer längst vergangenen Zeit hält: "Sag mal, wie wäre die Pandemie eigentlich verlaufen, als du so alt warst wie ich jetzt?"

Die ehrliche Antwort ist eine Botschaft an all die Früher-war-alles-besser-Prediger: Schrecklich wäre es gewesen! Es ist sicherlich nicht einfach heutzutage, aber es ist vor allem technischen Entwicklungen zu verdanken, dass die Auswirkungen der Restriktionen nicht so gravierend sind, wie sie vor 30 Jahren gewesen wären. Mehr noch: Es wird gerade an der Pazifikküste mit all den Problemen sichtbar, welch Segen der technologische Fortschritt ist.

Die Technikbranche hat derzeit wahrlich nicht den besten Ruf, und das durchaus berechtigt. Der Dokumentarfilm "The Social Dilemma", das Buch "Uncanny Valley" von Anna Wiener oder auch die groteske Kongress-Anhörung der Chefs von Apple, Amazon, Facebook und Google zeichnen das Silicon Valley nicht mehr als geradezu utopischen Ort, an dem die klügsten Köpfe fröhlich die Zukunft verhandeln - sondern als Dystopie, in der Firmengründer aus Geltungsdrang und Profitgier eine existenzielle Bedrohung für die Menschheit erschaffen haben.

Es ist derzeit en vogue, Verschwörungstheorien zu stricken und Schlussfolgerungen zu plärren. Es lohnt deshalb, mal einen Schritt nach hinten zu machen und das komplexe Gesamtbild zu betrachten. Man erkennt dann ein paar Ecken, die einem entgangen sind beim Fokus auf all die negativen Aspekte.

Es brennt gerade lichterloh an der US-Pazifikküste, und man muss fragen, was die Gründe für diese verheerenden Waldbrände sind. Man könnte aber auch feststellen, dass die Feuerwehr gerade einen 8,8-Millionen-Dollar-Auftrag an das kalifornische Start-up Technoslyva vergeben hat, das darauf spezialisiert ist, Livedaten von Wetterstationen, Satelliten und Elektroden im Boden zu sammeln, einen Supercomputer damit zu füttern und dann Prognosen zu erstellen, wohin sich die Feuer ausbreiten werden. Die werden dann zum Beispiel an Energiekonzerne weitergeleitet, und die mussten deshalb bei 30 Prozent weniger Bewohnern den Strom abstellen als bei Bränden im vergangenen Jahr, und sie konnten die Maßnahmen zur Prävention effizienter gestalten. So wurden genau jene 7000 Strommasten mit Brandverzögerer eingesprüht, die einen Tag später von den Feuern erfasst wurden.

"Es ist eine recht neue Wissenschaft, aber wir sind auf dem richtigen Weg", sagt Technoslyva-Manager Joaquin Ramirez: "Wenn wir genügend gute Daten haben, sind wir in der Lage, eine ordentliche Prognose zu liefern." Big Data ist also eine dringend notwendige Maßnahme, um Leben und Eigentum zu retten. Wer sich mit Leuten unterhält, die seit Jahrzehnten Brände bekämpfen, der erfährt, wie gravierend sich der Beruf von Feuerwehrleuten geändert hat.

"Sie bekommen heute eine minutengenaue Simulation auf Ihre Bildschirme, wie sich Brände entwickeln dürften", sagt Tim Chavez, der seit 20 Jahren für die kalifornische Feuerwehr die Ausbreitung von Bränden analysiert. Aus dem Abschätzen und Abwägen sei nun eine klare Prognose geworden: "Sie wissen, welche Bereiche Sie evakuieren müssen und an welchen Stellen Sie ansetzen können, um einen Brand einzudämmen."

Google und Forscher wollen zusammen helfen, gefährliche Nachbeben vorherzusehen

Oder Erdbeben: Es hat kürzlich ordentlich gewackelt in Los Angeles, der 4,5-Rüttler war eine Erinnerung daran, dass The Big One, dieses gewaltige, zerstörerische Erdbeben, mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 99 Prozent in den kommenden 30 Jahren stattfinden wird. Es ist noch immer unmöglich, ein Erdbeben vorherzusagen. Was es gibt: die App Shake Alert der Bundesbehörde Geological Survey, und die warnte die Leute beim Beben zuletzt 13 Sekunden bevor die Erde am Ort des Handys wackelte. Zeit genug, sich wenigstens unter dem Türrahmen in Schutz zu bringen.

Es gibt an der amerikanischen Westküste zahlreiche Wissenschaftler, die Algorithmen und neurale Netzwerke entwickeln, um das Warnsystem zu verbessern - und über maschinelles Lernen einen Schritt in die Richtung zu tun, Erdbeben womöglich doch in irgendeiner Form prognostizieren zu können. Gemeinsame Projekte von Google und der Eliteuniversität sollen helfen, gefährliche Nachbeben vorherzusehen.

Man muss über die Folgen des technologischen Fortschritts debattieren - sich aber auch im Klaren sein, dass Technologien wie Bahnfahren, Elektrizität und Fernsehen einst ebenfalls als gefährlich galten. Die Beispiele mit Waldbränden und Erdbeben zeigen, dass auch die Firmengründer erkannt haben, dass die Welt auf Lösungen für existenzielle Bedrohungen wartet und nicht auf das nächste soziale Netzwerk oder die nächste Video-App. Es sind zwei Erinnerungen daran, dass die Realität komplexer ist, als dass man sie in blinden Technikglauben oder Kulturpessimismus aufteilen könnte.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: