Einmal kurz hebt Reinhard Siekaczek die Hände, als ihn die Fotografen gar zu heftig aufs Korn nehmen. Aber es war nicht mehr als eine hilflose Geste, sofort lässt er die Hände wieder sinken und stützt sie auf die Lehne eines dieser schmutzig orange-braunen Stoffstühle. Er steht einfach nur da und sagt kein Wort. Eine Fotografin lächelt ihn an, als sehe sie einen alten Bekannten. Er lächelt nicht zurück.
Bald darauf lassen die Fotografen freiwillig von ihm ab. Da sich Reinhard Siekaczek ohnehin kaum bewegt, gibt es keine Hoffnung auf neue Perspektiven. Er ist zu unscheinbar, selbst für die Fotografen. Exakt frisierte Silberhaare, eine viereckige Silberbrille, ein grau-silbriger Anzug und eine silbrige Krawatte mit kleinen silbrigen Quadraten, silberfarbene Uhr. Blaues Hemd, weiches Gesicht.
Er löst die Hände von der Lehne, verschränkt sie vor der Brust und wartet weiter. Jetzt ganz allein, sein Anwalt ist im Raum unterwegs. Er wartet hier im Sitzungssaal A 101 im Landgericht München I auf sein Urteil. Über ihm hängen schwere große, gelblich gestrichene Betonquader und der ganze Raum ist in dieses quälende grünliche Licht getaucht, das den gesamten Bau des Landgerichts München I dominiert.
Sorgen braucht er sich an diesem Tag nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft kaum mehr zu machen. Er kann aber hoffen, dass das Gericht noch unter dem geforderten Strafmaß - Bewährungsstrafe plus Geldstrafe - bleibt.
Es gilt als unwahrscheinlich, dass die 5. Strafkammer ein härteres Urteil fällt - es wäre ein verheerendes Signal für Wirtschaftskriminelle, wenn ein derart hohes Maß an Kooperationsbereitschaft, wie sie Siekaczek gezeigt hatte, nicht honoriert würde.
Kurz darauf betreten die Richter den Raum und der Vorsitzende Richter Peter Noll verkündet umgehend das Urteil: Siekaczek wird zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, deren Vollstreckung für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt ist. Außerdem soll er 540 Tagessätze à 200 Euro bezahlen, insgesamt 108.000 Euro - 72.000 weniger, als die Staatsanwälte gefordert hatten.
Keine betriebswirtschaftliche Rechnung
Siekaczek nimmt das Urteil ohne Regung auf. Vor ihm liegt eine kleine braune Mappe, darauf - sorgfältig ausgerichtet - ein Stift. Die Hände ruhen auf der Tischplatte, der Stift bleibt liegen.
Dann die Begründung: Das Gericht hat keinerlei Zweifel daran, dass sich Siekaczek der Untreue in 49 Fällen schuldig gemacht hat. Untreue? Warum sitzt Siekaczek hier, wo es doch eigentlich um einen "Siemens-Prozess" geht. Warum wird er wegen Untreue angeklagt, obwohl er das Geld doch nicht selbst eingesackt hat? "Der gesunde Menschverstand", so formuliert es Richter Noll, "wehrt sich."g
Und Noll nimmt sich viel Zeit für die Antwort: Siekaczek wurde verurteilt, weil er knapp 50 Millionen Euro in ein undurchsichtiges Geflecht von Firmen geleitet hat. Geld, das der Firma Siemens gehörte. Als im Ausland Korruption zunehmend geächtet wurde, habe Siekaczek auf Basis des existierenden Schmiergeldsystems die Idee entwickelt, über Scheinberaterverträge Geld von Siemens abzuziehen und dieses für die Gewinnung von Aufträgen einzusetzen.
Es sei nicht Sache des Gerichts, eine betriebswirtschaftliche Rechnung aufzustellen: In welchem Maß hat Siemens durch die Aufträge profitiert? Und muss ein Imageverlust gegengerechnet werden?
Nein, hier wird ein Mann verurteilt, der das Geld auf dubiose Weise weitergeleitet hatte, dem Zugriff der Firma entzog und zeitweise selbst nicht wusste, wo es geblieben war.
"Das Geld ist wie Wasser in einem Schwamm verschwunden. Man kann ihn zwar wieder ausdrücken, aber nur ein Teil der ursprünglichen Wassermenge kommt wieder heraus", sagte Noll. Keine Quittungen, nur "Ehrenworte".
So etwas darf ein Firmenangehöriger nicht machen. Punkt. Darum gab es eine Verurteilung.
Mit dem Zahnputzbecher gegen einen Großbrand
Aber: An Siekaczek sollte kein Exempel statuiert werden. Selbst wenn er genau wusste, was er tat, die "Macht", das "üppige Spesenkonto" und die Nächte in den "Fünf-Sterne-Hotels" genoss, es steckte eben doch Siemens dahinter - ein Unternehmen, das ein System der "organisierten Unverantwortlichkeit" barg und das Vorgehen von Siekaczek mit "augenzwinkernder Zustimmung" tolerierte und darum die "Eigenverantwortlichkeit erheblich relativiert."
"Praktisch alle Kontrollinstanzen haben darauf abgezielt, so ein Verhalten zu ermöglichen", kritisiert Noll. Die Compliance-Abteilung habe dagegen so viel ausrichten können wie "die Feuerwehr mit einem Zahnputzbecher" bei einem Großbrand.
Siekaczek, immerhin Direktor bei Siemens, sei in diesem Fall schon "ein Großer" gewesen, aber "kein ganz Großer". Der Zentralvorstand hat nach Auffassung des Gerichts von den Vorgängen gewusst. Es sei zwar "das gute Recht" seiner Vorgesetzten, hier nicht als Zeugen auszusagen - und trotzdem zeigt sich Richter Noll verwundert, dass sie ihrer "Fürsorgepflicht" nicht nachgekommen seien und Siekaczek alleinließen.
Siekaczek schlägt seine braune Mappe auf und schreibt während der ganzen Begründung nur ein paar Worte mit.
Zögerlich - eher, um es überhaupt getan zu haben, wenn der Kugelschreiber schon da liegt.
Er kennt ja das ganze System, weiß längst, was gesagt wird, weil er es alles erzählt hat. Dem gibt es nichts mehr hinzuzufügen. Höchstens nur, dass er auch tatsächlich begriffen hat: Als Noll ihn fragt, ob er nun wüsste, was er zu tun habe, sagt Siekaczek "ja".
Das Urteil erkennt er noch im Gerichtssaal an - darum ist es rechtskräftig. Draußen vor dem Raum A101 beantwortet Siekaczek noch ein paar Fragen der Journalisten, sagt, dass er froh ist, dass nun alles vorbei ist - und entschwindet allein, ein Silberling im dunklen Gang.