Montagsinterview:"Nur die Großen und Starken werden überleben"

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Auch Michael Sen hatte sich einmal große Hoffnungen auf die Kaeser-Nachfolge gemacht. (Foto: oh)

Siemens-Vorstand Michael Sen über den Wettbewerb, sein Verhältnis zu Handwerkern und die Frage, was sich für die Mitarbeiter verändern wird.

Von Thomas Fromm

Michael Sen gehört zu jener Gruppe von Siemensianern, die unter Beobachtung stehen, wenn es um die Frage geht, wer eines Tages Konzernchef Joe Kaeser beerben soll. Der Mann, der im nordrhein-westfälischen Korschenbroich geboren wurde und in Oberfranken aufwuchs, gilt als ziemlich ehrgeizig. Und gut vernetzt ist er auch.

SZ: Herr Sen, ein Fliesenleger aus der Gegend von Ingolstadt hat vor einigen Wochen mitgeteilt, dass er nicht mehr für Ingenieure von Audi und Siemens arbeiten will. Zu viele Nörgeleien, zu pingelig. Sind Siemensianer echt so kompliziert?

Michael Sen: Ich finde solche Aussagen immer schwierig, man sollte die Dinge nicht verallgemeinern. Die Siemens-Kollegen, mit denen ich zu tun habe, sind es zumindest nicht. Ich habe gerade selbst viel mit Handwerkern zu tun und erlebe neben tollem Service auch so einiges.

Würden Sie denn mit dem Fliesenleger aus Ingolstadt klarkommen?

Ich denke schon! Ich komme aus einer oberfränkischen Kleinstadt und bin mit Menschen unterschiedlichster Herkunft aufgewachsen, darunter auch Kinder von Handwerkern, die zum Teil heute noch zu meinem Bekanntenkreis gehören.

Sie betreuen im Siemens-Vorstand die Medizintechniksparte Siemens Healthineers, die seit vergangenem Jahr an der Börse ist, und die Windsparte Gamesa, die in ein deutsch-spanisches Gemeinschaftsunternehmen gegeben wurde. Geht das alles, ohne pingelig zu sein?

Meine Aufgabe als Vertreter des Mehrheitsaktionärs ist es, immer die großen Linien im Auge zu behalten. Dafür müssen Sie die Themen schon tief durchdringen. Man darf also keine Angst vor Details haben.

Und was machen Sie, wenn es im Detail mal ruckelt? Ausgerechnet das Laboranalyse-System Atellica, für das Sie kräftig werben, kommt nicht vom Fleck, weil Ingenieure die Installation nicht hinkriegen. Wie gehen Sie damit um?

Atellica ist ein hervorragendes neues Produkt, das alle Voraussetzungen erfüllt, um erfolgreich zu sein. CEO und Vorstand von Siemens Healthineers haben gegenüber dem Kapitalmarkt und dem Aufsichtsrat ehrgeizige Ziele kommuniziert. Jetzt geht es darum zu liefern. Das ist dem Managementteam durchaus bewusst und das ist auch machbar.

Sie und Healthineers-Chef Bernd Montag sind ziemlich unterschiedlich: Er der Techniker, der viel von Computertomografen versteht, aber nur begrenzt von Börsendingen. Sie wiederum sind keiner, der Diagnosegeräte auseinanderschraubt, aber Sie wissen, wie man mit Investoren umgeht. Trifft es das einigermaßen?

Das ist sehr zugespitzt. Wir sehen das nicht so schwarz-weiß. Okay, ich könnte einen CT wahrscheinlich auseinanderschrauben, aber nicht wieder zusammensetzen. Als CEO von Healthineers ist es Bernd Montags Job, mit Investoren zu sprechen, und das macht er ordentlich. Aufsichtsrat und Vorstand haben eine klare Arbeitsteilung. Der Aufsichtsrat berät und kontrolliert den Vorstand, wie überall. Dann gibt es hier noch eine besondere Situation, denn Siemens ist der größte Anteilseigner von Healthineers. Meine Aufgabe ist es, die Interessen des Konzerns im Auge zu behalten. Das ist der Unterschied zu Finanzinvestoren: Wir kennen das Geschäft von innen und wissen, wie die Industrie funktioniert.

Man nannte Sie mal die "Allzweckwaffe" von Siemens. Sehen Sie sich auch so?

Das müssen andere bewerten. Ich würde mich eher als Generalisten bezeichnen, der in seinem Berufsleben viel Erfahrung unter anderem in der Energiebranche und Medizintechnik gesammelt hat. Sicherlich wäre ich nicht der richtige Mann, um Farben und Lacke zu verkaufen.

Der US-Mischkonzern General Electric (GE) steckt in der Krise. Will Siemens noch ein Konglomerat sein?

Es steht uns nicht zu, die Situation von Wettbewerbern zu kommentieren. Zur Frage des Konglomerats hat sich unser Vorstandsvorsitzender Joe Kaeser klar geäußert: Konglomerate alten Stils haben keine Zukunft.

Profitieren Sie von der Schwäche der Amerikaner?

Wir wollen keine Krisenprofiteure sein, und jedweder Hochmut verbietet sich.

Was ist bei den Kollegen falsch gelaufen?

Dazu habe ich eine private Meinung. Für mich ist es auch eine Frage des Respekts gegenüber einer Industrie-Ikone, nicht von der Seitenlinie zu kommentieren und es besser wissen zu wollen. Der aktuelle Unterschied ist doch, dass wir die Dinge antizipieren und mit großer Überzeugung unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen.

Aber klappt das bei Siemens denn? Nehmen Sie das Beispiel Gamesa, da hat es Ärger mit den Spaniern gegeben. Vor allem in den vergangenen Monaten, als Sie 6000 Stellen streichen mussten.

Das stimmt. Der Start war nicht ganz geräuschlos. In letzter Zeit habe ich aber nicht mehr viel Kritik aus Spanien gehört. Es ist so wie immer und überall: Es kann mal menscheln, deshalb muss man viel miteinander reden. Die Kulturen sind schon sehr unterschiedlich. Ich fahre alle zwei Wochen nach Spanien, um dort die Dinge zu besprechen.

Warum eigentlich dieses deutsch-spanische Gemeinschaftsunternehmen?

Im Windenergiemarkt findet gerade ein darwinistischer Verdrängungswettbewerb statt. Entweder Sie sind drin, oder Sie sind draußen. Nur die Großen und Starken werden überleben. Die Kleineren werden aus dem Markt fallen. Gleichzeitig steigt der Druck durch chinesische Konzerne. Bislang nehmen die sich erst mal ihren eigenen Markt vor, danach können wir warten, bis sie zu uns kommen und richtig zuschlagen. Das haben wir in der Telekommunikation gesehen, wir werden das bei Zügen erleben und in anderen Bereichen auch.

Sind Healthineers und Gamesa die Rollenmodelle - also Schnellboote statt Tanker?

Ja und Nein. Joe Kaeser hat das Bild von einem Flottenverbund benutzt. Das bedeutet nicht, dass alle Schnellboote sind.

Und was machen Sie, wenn auf einmal alle den Libero spielen wollen?

Das würde nicht funktionieren. Jeder muss sich auf seine Branche konzentrieren. Die Windenergiebranche tickt komplett anders als das Medizingeschäft, das wiederum tickt anders als das Geschäft mit Öl und Gas, das wir in den USA haben.

Und was wird aus Siemens, wenn die einzelnen Konzerntöchter immer eigenständiger werden? Eine immer kleinere Zentrale und immer weniger Menschen?

Am Ende ist es doch so: Wir müssen nah am Kunden sein. Wenn wir beispielsweise mehr in Biotech-Geschäften unterwegs sein wollen, dann kann ich die künftigen Mitarbeiter nicht mit einem Rundschreiben aus der Zentrale aus München erreichen. Die Fachleute in unserem Molekulargeschäft arbeiten beispielsweise in San Francisco, die kommen aus der Bay Area und werden niemals zu Siemens nach Forchheim gehen.

Wird es den Konzern in einigen Jahren überhaupt noch geben, wenn Sie alles aus- und verlagern?

Darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Um es mit den Worten unseres CEOs zu sagen: Hypothetisch könnte es langfristig zwei Siemens-Firmen im Dax geben. Ich habe Verständnis dafür, dass die jüngsten Veränderungen bei uns auch Verunsicherung auslösen können. Am Ende geht es aber doch darum, dass unsere Geschäfte stark sind und sich behaupten. Nur das schafft eine langfristige Perspektive.

Was wird sich denn für die Menschen am meisten verändern?

Sie müssen sich daran gewöhnen, dass sie auf einzelne Servicebereiche - zum Beispiel IT und Personalwesen - im Haus zurückgreifen können, aber nicht müssen. Die können auch wählen. Wenn die Service-Einheiten wettbewerbsfähig sind und von unseren Leuten in den einzelnen Geschäftsbereichen genutzt werden, dann gibt es auch die Jobs. Unsere Service-Einheiten müssen also über Digitalisierung nachdenken, über Robotics und über künstliche Intelligenz. Ich bin sicher: Da werden wir in den nächsten Jahren noch einen kulturellen Wandel erleben.

Sie riskieren den großen Kulturbruch, um nicht die Probleme von GE zu bekommen?

Ich war gerade in den USA, und ich kann Ihnen sagen: Das Thema GE treibt Amerika um. Das wollen wir bei uns vermeiden, und daher brauchen wir große, auch kulturelle Veränderungen. Dafür müssen unsere Geschäftsbereiche selbständiger und flexibler werden.

Die "America first"-Politik von Donald Trump hat vor allem auch die Autoindustrie in Deutschland im Visier. Spüren Sie bei Siemens auch etwas davon?

Nein, eigentlich nicht. Wir sind in den USA in jedem Bundesstaat vertreten und werden dort von vielen Menschen als amerikanisches Unternehmen wahrgenommen.

Der Brexit, die Weltkonjunktur - die Prognosen sehen alles andere als gut aus ...

Wir haben eine große Windanlagenfabrik in England, aber die produziert lokal. Die Frage ist, wie wird sich die britische Wirtschaft insgesamt entwickeln? Wenn insgesamt weniger investiert wird, könnte uns das indirekt auch betreffen. Grundsätzlich bin ich aber gar nicht so pessimistisch. Ich möchte mich ungern in die Reihe der Schwarzmaler einreihen und sagen: Jetzt wird alles ganz furchtbar.

Noch eine Frage an den Allrounder Sen: Spätestens 2021 wird in München ein Top-Job frei - dann läuft der Vertrag von Siemens-Chef Joe Kaeser aus. Interesse?

Ich bin froh mit dem, was ich mache.

Das sagen alle ...

Ich bin sehr zufrieden und habe superspannende Themen.

Wenn Sie Siemens-Chef wären, hätten Sie noch mehr spannende Themen.

Doppelter Konjunktiv!

Michael Sen, 50, hat nach dem Abitur zunächst eine Stammhauslehre bei Siemens gemacht und dann Betriebswirtschaft studiert. 2015 ging er als Finanzchef zum Energieversorger Eon, im April 2017 kehrte er zurück zu Siemens.

© SZ vom 11.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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