Siemens-Aufsichtsratschef von Pierer:Im Prinzip für die Moral

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Sein Name steht für Macht und Erfolg, doch nun steckt sein Konzern im Korruptionssumpf - der Aufsichtsratschef setzt trotzdem auf Selbstkontrolle.

Markus Balser und Karl-Heinz Büschemann

München, im Januar - Routiniert spult am Samstag kurz vor zehn der Radioreporter auf dem Marktplatz von Erlangen die Interviews mit den Passanten ab.

Siemens - Aufsichtsratsvorsitzender Heinrich von Pierer. (Foto: Foto: dpa)

"Wie ist Ihr Name", fragte er den nächsten in der Reihe, einen älteren Herrn mit runder Brille. "Pierer, Heinrich", kommt zur Antwort. Der Bayern-Eins-Mann stutzt, erkennt den Aufsichtsratsvorsitzenden des Siemens-Konzerns.

So einen Prominenten kriegt man nicht jeden Tag vors Mikrophon. Über Bayern Eins können Hörer eine Reise nach Teneriffa oder Mauritius gewinnen, wenn sie sagen: "Ich bin reif für die Insel" und einen Grund für ihre Erholungsbedürftigkeit nennen.

Reif für die Insel

Heinrich von Pierer, der aus Erlangen stammt und hier jeden Samstagvormittag mit Ehefrau Annette einkauft, hat sich zum Spaß in die Schlange vor dem Ü-Wagen gestellt. Er mag es, wenn man ihn für einen normalen Bürger hält, obwohl er als Aufsichtsratschef des größten deutschen Elektrokonzerns für 400.000 Menschen verantwortlich ist.

"Das ist der Chef von meinem Sohn", kreischt prompt eine Frau über den Platz. Pierer gibt sich leutselig. Nur die Standardfrage des Moderators will er nicht beantworten. Wie sähe es auch aus, wenn ausgerechnet er zum Besten gäbe, reif zu sein für die Insel, wegzuwollen, sich aus dem Staub zu machen. Obwohl er dafür gute Gründe hätte.

Er könnte sagen: Ich will weg, weil Siemens derzeit in den Dreck gezogen wird. Er könnte sagen: Ich will weg, weil die Schwarzgeld-Affäre das Unternehmen zerreißt. Er könnte sagen: Ich will weg, weil ich keine Lust habe, mich am Donnerstag auf der Hauptversammlung für all das rechtfertigen zu müssen, was bei Siemens passiert: für die schwarzen Kassen, für die Pleite des Handyherstellers BenQ, für die Gehaltserhöhung von 30 Prozent für den Vorstand.

Volksnaher Konzernlenker

Er sagt es nicht. Heinrich von Pierer redet nicht über die Ermittler in München, die sein Unternehmen auf den Kopf stellen. Und auch nicht über die Presseleute, die Tag für Tag über das finstere Netzwerk berichten, welches bei Siemens entstanden ist, über die Geldströme zwischen München, Monaco, Athen und Saudi-Arabien, über den größten Korruptionsskandal, der bislang ein deutsches Unternehmen erschüttert hat.

Lieber plaudert von Pierer in breitestem Marktplatz-Fränkisch mit dem Moderator über die drei Hemden, die seine Frau ihm gerade ausgesucht hat. Das vergangene Wochenende hat er besonders genossen. Am Sonntagmittag hat er sich von seiner Frau bekochen lassen, sich anschließend beim Tennisspiel verausgabt. Dann ging es zurück nach München.

Es gilt, die Hauptversammlung an diesem Donnerstag vorzubereiten, die Reden mit seinem Mitarbeitern noch einmal durchzugehen, mit anderen Aufsichtsräten zu sprechen, mit dem Vorstand. Das Tagesgeschäft hatte den Mann, der am Tag nach der Hauptversammlung 66 Jahre alt wird, wieder.

Es wird das wohl härteste Aktionärstreffen seiner Laufbahn. Denn die Vorwürfe gegen das Unternehmen, das er lange geführt hat und nun kontrollieren soll, wiegen schwer. Siemens-Manager sollen 420 Millionen Euro für Bestechung im Ausland ausgegeben haben, um Aufträge an Land zu holen. Mitarbeiter, Aktionärsschützer und Investmentfonds sind darüber erzürnt.

Vorstand und Aufsichtsrat gehen mit gehörigem Bammel in die Veranstaltung. 15.000 Aktionäre, ganz große und ganz kleine, werden in die Münchner Olympia-Halle kommen, viel mehr als sonst. Pierer wird die Sitzung leiten - und sich anhören müssen, dass die Leute, denen ein Teil von Siemens gehört, seinen Rücktritt fordern werden.

Symbolbild der Deutschland AG

Ausgerechnet er soll gehen. Ausgerechnet der Mann, der wie keiner für die alte Deutschland AG steht, für das engmaschige Geflecht zwischen Unternehmen, Banken und Politik. Er hätte alles werden können, vom Bundespräsidenten an abwärts.

Er hat Gerhard Schröder beraten, als der Kanzler war. Er hat Edmund Stoiber beraten, als der Kanzler werden wollte, und auch davor und danach. Er saß im September 2005 in der CDU-Parteizentrale, als Angela Merkel erfuhr, dass sie die Bundestagswahl nicht wirklich verloren, aber auch nicht wirklich gewonnen hatte. Man hätte sich Pierer, der vor vielen Jahren für die CSU im Stadtrat von Erlangen saß, gut als Bundeswirtschaftsminister vorstellen können.

Nun versteht er die Welt nicht mehr. Seit am 15. November mit der Soko Netzwerk Heerscharen von Staatsanwälten mit einem siebenseitigen Durchsuchungsbeschluss zeitgleich in verschiedenen Niederlassungen des Konzerns und in der Zentrale am Wittelsbacher Platz in München erschienen, ist sein Lebenswerk, ist Siemens in Gefahr.

"Ich dachte, mich tritt ein Pferd"

Er hat sich den Durchsuchungsbeschluss angesehen. Von "Bandenbildung" war darin die Rede. "Ich dachte mich tritt ein Pferd", sagt der Manager, der bald 40 Jahren für Siemens arbeitet. Und der von Siemens immer noch nicht lassen kann.

Seit Beginn der Affäre wirkt Heinrich von Pierer angeschlagen, verletzt, schmaler geworden und blass. Die Korruptionsaffäre beschädigt sein Ansehen. Dabei hat er immer die Fahne des Anstands hochgehalten.

Der promovierte Jurist schrieb 2003 mit der Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolf ein Buch des Titels "Zwischen Profit und Moral". Profit und Moral müssten im Zusammenhang gesehen werden, schreibt Pierer da: "Für dauerhaft erfolgreiche Unternehmen ist das eine so bedeutsam wie das andere."

Auf sein klares Bekenntnis zu einwandfreiem Handeln lässt Pierer nichts kommen. Das war ihm auch wichtig, als die Korruptionsaffäre gerade mal vier Wochen alt war. Mitte Dezember lud er ins Münchner Hotel Bayerischer Hof ein, um bei Bier und Leberkäs' noch einmal darzustellen, wie er die Dinge sieht, flankiert von Siemens-Chef Kleinfeld und Finanzvorstand Joe Kaeser. Dass er noch einmal an einem solchen Pressegespräch teilnehmen müsste, hätte er auch nicht gedacht, klagte der 65-Jährige.

In seiner Amtszeit habe er weltweit fast 900 Aufpasser eingesetzt, so genannte Compliance-Beauftragte, sagt er. Jahr für Jahr hätten leitende Angestellte Verhaltensregeln unterschreiben müssen. Dass Manager Reinhard S. aus dem Kommunikationsgeschäft, einer der Beschuldigten in der Affäre, das Schreiben wegen schwarzer Kassen angeblich nicht signieren wollte, will niemandem aufgestoßen sein.

Aber deswegen wird er nicht zurücktreten. "Das wäre ein Riesenfehler", sagt Heinrich von Pierer. Das würde ihm doch nur als das Eingeständnis von Schuld ausgelegt, das könne er seinen Mitarbeitern nicht antun. Bei denen sei er geschätzt und beliebt. Er müsse das jetzt durchstehen und die Sache aufklären.

Zu weit weg vom Tagesgeschäft?

"Wir müssen den Laden doch zusammenhalten", sagt er. Er habe von einem System schwarzer Kassen nichts gewusst. So etwas könne ein Vorstandschef nicht wissen, der sei zu weit weg vom Tagesgeschäft.

Hat er tatsächlich nichts gewusst? Oder wollte er nichts wissen? Hat er etwas geahnt? Oder hätte er etwas ahnen müssen? 420 Millionen Euro, die in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwinden, sind keine peanuts.

Man müsse sich vorstellen, dass es bei Siemens jeden Tag zehn Millionen Buchungen gebe, sagt Pierer. Der Konzern, der in 190 Ländern der Welt vertreten ist, sei viel zu dezentral organisiert. Er habe auch keine doppelbödige Kultur des Wegschauens geduldet. "Ich habe mit der Sache nichts zu tun", versichert er.

Die schlechten Neuigkeiten aus der Zeitung

Aber fast jeden jeden Tag muss er Neuigkeiten in den Zeitungen lesen. Auch Vorstandmitglieder sollen in die Sache verwickelt sein. Das kratzt am Stolz des Mannes, der in seinen inzwischen 14 Jahren an der Konzernspitze so etwas wurde wie Mr. Siemens.

Pierer, der einen jovialen Umgangston liebt, genießt in allen sechs Unternehmensbereichen hohes Ansehen. Er ist zeitweilig bei der Belegschaft so beliebt gewesen, dass er es sogar zum Betriebsrat ehrenhalber brachte. Die Arbeitnehmervertreter des Erfurter Generatoren-Werks haben ihm diesen Titel samt einem knallroten IG-Metall-Schutzhelm verliehen, weil er sich für den Erhaltung der Fabrik eingesetzt hat. Darauf ist Pierer stolz. Viele Auszeichnungen habe er erhalten, sagte er, aber diese sei die exotischste.

Auch außerhalb von Siemens wurde Pierer zum Vorzeigemanager. Wo er auftritt, da geht es längst nicht nur um Glühbirnen oder Gasturbinen. Es geht immer auch um das große Ganze. Die Weltwirtschaft, den Standort Deutschland. Pierer mischte den einstmals verschlafenen Elektrokonzern auf wie vor ihm kein anderer Topmanager.

Als er 1992 den Chefposten antrat waren die Tigerstaaten weit weg und die Globalisierung ein Seminarthema. Siemens war ein behäbiger Behördenlieferant, der von Aufträgen für die Bundespost lebte und fast alles produzierte, was mit Elektronik zu tun hatte: Atomkraftwerke und elektrische Zahnbürsten, Lokomotiven und Röntgengeräte.

Das hat Pierer geändert. Der Konzern trennte sich von 50 Geschäftsfeldern und spaltete die Chipsparten als neue Unternehmen mit Kunstnamen wie Infineon und Epcos ab. Die Zahl der Arbeitsplätze stieg von 413.000 auf 430.000. In Deutschland allerdings ging die Zahl der Beschäftigten auf 164.000 zurück - 90.000 weniger als noch zu Beginn seiner Amtszeit.

Konzernhoffnung China

Sein Lieblingsthema wurde China. Ein paar Mal im Jahr war er in dem Land, um Geschäfte anzukurbeln. Kurz vor seinem Abgang als Vorstandschef feierte Pierer mit 800 Gästen in Schanghai "100 Jahre Siemens in China". 45 Joint-Ventures hatte der Konzern in ein paar Jahren angesammelt. "Wir wachsen da, wo unser Geschäft wächst", sagt Pierer.

Aber Pierer war nicht immer erfolgreich. Ende der neunziger Jahre sah es fast so aus, als sei seine Chefzeit zu Ende. Ein wenig Schlitzohrigkeit kommt zum Vorschein, wenn Pierer heute erzählt, wie knapp es damals für ihn war.

Gemeinsam mit seinem obersten Öffentlichkeitsarbeiter, Eberhard Posner, riss er im Sommer 1998 das Ruder herum. Er brachte ein Zehn-Punkte-Programm zu Papier, eine neue Strategie. "Zehn Punkte", das hörte sich an wie das Erfolgsrezept von Helmut Kohl für die deutsche Wiedervereinigung. Das brachte die Wende. In der öffentlichen Meinung mutierte der Konzern zum dynamischen Zukunftswert.

Der Rückzug

Vor zwei Jahren wechselte Pierer an die Spitze des Aufsichtsrates, er hat seinem Nachfolger Klaus Kleinfeld übergeben. Er selbst wollte es etwas ruhiger angehen lassen. Doch spätestens 2006 hat ihn das Glück verlassen.

Es gab Ärger wegen des missratenenVerkaufs der Handy-Tochter an den taiwanesischen Konzern BenQ. Dann war in den Zeitungen zu lesen, der Vorstand habe sich seine Bezüge um 30Prozent erhöhen lassen. Und jetzt lässt die Korruptionsgeschichte sein Denkmal wanken.

Auf- oder Verdecker?

Er ist als Aufsichtsratschef der oberste Kontrolleur bei Siemens. Wie soll er da Vorgänge aufdecken helfen, die passierten, als er Chef war, fragen sich Experten für Unternehmenskontrolle. Sie sprechen von einem Interessenkonflikt. Er könnte Dingen geduldet haben, die er jetzt aufklären müsse. Pierer lässt den Einwand nicht gelten. "Bei Siemens sind amerikanische Anwälte mit der Aufklärung der Affäre betraut. Die lassen sich von mir nicht an ihrer Arbeit hindern."

Heinrich von Pierer wird nicht aufgeben. In der Olympia-Halle wird er die Angriffe der Aktionäre abwehren. Sie werden ihn wahrscheinlich mit einer ordentlichen Mehrheit entlasten. Er wird seinen Platz nicht räumen, weiter 60 bis 70 Stunden in der Woche für Siemens unterwegs ein.

Und am Samstagvormittag wird er mit Ehefrau Annette durch Erlangen schlendern und sich still darüber freuen, dass ihn so mancher auf der Straße als den Mann erkennt, der eigentlich Siemens ist.

© SZ vom 25.01.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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