Schüngelbergsiedlung:Kohle verbindet

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Die Arbeitersiedlung Schüngelberg liegt am Rande von Gelsenkirchen-Buer und ist Teil der Route der Industriekultur. 521 Wohnungen gibt es heute dort. (Foto: oh)

Die Zechenkolonie in Gelsenkirchen wurde einst für die Bergleute errichtet, mit Häusern für die Chefs und kleinen Wohnungen für die Kumpels.

Von Stefan Weber

Christel Heinrich ist Mitte achtzig und nur einmal in ihrem Leben umgezogen. Wenn man das überhaupt Umzug nennen kann - sechs Häuser weiter in derselben Straße. "Geboren bin ich in Nummer 16 und dann nach der Heirat hier in die 28 gezogen", erzählt die alte Dame. Gleich vor ihrem Haus in der Gelsenkirchener Gertrudstraße steht eine riesige Kastanie. Der Baum nimmt den Zimmern viel Tageslicht, und das Laub macht im Herbst eine Menge Arbeit. Man könnte also auf die Idee kommen, die Baumkrone auszudünnen oder die Kastanie gleich ganz zu fällen. Aber nicht mit Christel Heinrich. Dafür gibt es zu viele Erinnerungen. "Ich kenne den Baum von klein an. Und später ist mein Robert, der heute auch schon 58 ist, darin geklettert."

Willkommen in der Schüngelbergsiedlung im Gelsenkirchener Stadtteil Buer. Die ältesten Häuser stammen aus dem Jahr 1897. Damals wollte die Harpener Bergbau-AG, Betreiber der nahe gelegenen Zeche Hugo, ihren Mitarbeitern Wohnraum bieten und errichtete um die Jahrhundertwende in mehreren Etappen ein großes Quartier. Umschlossen von Schachtanlage, Halde und Bahngleisen entstand über die Jahre eine Zweiklassensiedlung. Hier Doppelhäuser mit Wohnflächen von bis zu 130 Quadratmeter für die Familien von Betriebsleitern und Steigern, dort Arbeiterwohnungen, die höchstens 70 Quadratmeter groß waren.

"Die enge Nachbarschaft zu den Chefs war für die Kumpel aber nicht unbedingt von Vorteil. Denn wer krankfeierte, war rasch entlarvt", erzählt Siegfried Kessel, 62. Der ehemalige Bergmann ist die gute Seele der Kolonie. Er war drei Jahre alt, als seine Eltern von Brandenburg ins Ruhrgebiet kamen - in die Schüngelbergsiedlung. Dort ist die Familie mit ihren sieben Kindern später ein paar Mal umgezogen. Als Kessel heiratete, nahm er Abschied vom Schüngelberg. Aber nicht lange. "Ich wollte wieder zurück. Hier fühle ich mich am wohlsten."

Der Gang durchs Quartier wird für Kessel schnell zu einer Reise in die eigene Vergangenheit. "Hier habe ich meine erste Zigarette geraucht", erinnert er sich und zeigt auf einen dicht bewachsenen Schuppen. Und dort oben im Nachbarhaus, hinter dem kleinen Sprossenfenster, sei sein Kinderzimmer gewesen - das er sich mit vier Geschwistern geteilt habe. Ein paar Straßen weiter, unter dem großen Baum, hätten sie als Jungs viele Abende gesessen, mit einer Flasche Lambrusco und einem Akkordeon.

Siedlungsromantik. Damit wäre es in den Siebzigerjahren beinahe vorbei gewesen. Häuser und Wohnungen waren damals in einem nur schwer vermietbaren Zustand. Die Eigentümer hatten wenig in Instandsetzung und Modernisierung der Immobilien investiert. Manche Wohnungen hatten noch nicht einmal ein Badezimmer. Denn in Bergarbeiterwohnungen war es früher üblich gewesen, dass sich der rußverschmierte Familienvater nach der Arbeit in einer Zinkwanne im Keller säuberte.

Immer häufiger wurde über einen Abriss der Zechenkolonie nachgedacht - bis 1981 die THS-Wohnen, die später mit der Immobiliengesellschaft des Evonik-Konzerns zur heutigen Vivawest-Gruppe fusionierte, den gesamten Wohnungsbestand erwarb. Bald darauf wurden die Häuser unter Denkmalschutz gestellt. Mancher Erwerber entscheidet sich in solch einer Situation, Haus für Haus zu privatisieren. THS-Wohnen ging einen anderen Weg und beschloss, die Siedlung als städtebauliches Ensemble zu erhalten und für knapp 50 Millionen Mark denkmalgerecht zu sanieren - mit grünen Türen und Fensterläden, wie es sie früher gab, aber mit modernen Badezimmern in jeder Wohnung und Anschluss an das Fernwärmenetz. Mehr noch: Der bisher noch unbebaute, sieben Hektar große Innenbereich des Quartiers sollte durch moderne Häuserzeilen ergänzt werden.

Altbau und Moderne in enger Nachbarschaft - das birgt die Gefahr, dass der Gesamteindruck leidet, die Harmonie verloren geht. Der Schweizer Architekt Rolf Keller löste die Aufgabe, indem er die neuen Reihenhäuser der Giebelbauweise der früheren Zechenarchitektur anpasste. Herausgekommen ist eine Hommage an die Wohnkultur der Bergleute, mit vielen kleinen Fenstern im Obergeschoss der Neubauten. Kessel muss schmunzeln, wenn er daran denkt, was die Auftraggeber dem Architekten aus der fernen Schweiz damals auf den Weg gaben: dass Bergleute dunkle Schlafzimmer lieben, damit sie nach der Nachtschicht besser schlafen können. "So ein Unsinn. Wer unter Tage arbeitet, sehnt sich geradezu nach Licht", betont er.

"Wegziehen kommt für die älteren Bewohner häufig nicht infrage."

521 Wohnungen gibt es heute in der Schüngelbergsiedlung; davon sind gut 200 erst in den Neunzigerjahren entstanden. Kessel kramt in seinen Unterlagen, zückt zwei DIN-A4-große Fotos, Luftaufnahmen. Sie zeigen dasselbe Gelände im zeitlichen Abstand von vielleicht 50, 60 Jahren. Hier die Zeche Hugo in ihrer Hochzeit: mit Fördertürmen, rauchenden Schloten und Halden, durchzogen von einem dichten Schienennetz - mittendrin ein paar Häuserzeilen, die Anfänge der Schüngelbergsiedlung. Die andere Aufnahme zeigt ein dicht bebautes Quartier mit hellroten (Altbauten) und grauen Dächern (Neubauten) und viel Grün. Die Industrieanlagen ringsum sind weitgehend verschwunden. Kaum zu glauben, dass es sich um dasselbe Motiv handelt. Was aus der Luft auch gut zu erkennen ist: Die Schüngelbergsiedlung schaut aus wie eine Festung: umrandet von den "Rockys", wie die Bewohner die aufgeschüttete und begrünte Rungenberghalde nennen. Auf deren Gipfel stehen Scheinwerfer, die das Gelände nachts in ein imposantes Licht tauchen. Und wie bei Festungen üblich, gibt es nur eine Ein- und Ausfuhrmöglichkeit, zumindest für Autos.

Wenn Vivawest-Mitarbeiterin Nadine Leyk dienstags im Kundencenter inmitten der Siedlung ihre "Sprechstunde" abhält, haben viele Besucher häufig nur eine Frage: Ist eine passende Wohnung im Quartier frei? "Wegziehen kommt für die älteren Bewohner häufig nicht infrage. Und wer hier aufgewachsen und dann weggezogen ist, kehrt später mit eigener Familie gerne in den Schüngelberg zurück", erläutert Leyk. Warum? Die verkehrsgünstige Lage und das viele Grün allein können es nicht sein. Die Menschen machten den Unterschied, meint Leyk. Der Zusammenhalt im Quartier sei einzigartig. Das, weiß Kessel, sei in vielen Fällen das Erbe einer gemeinsamen Zeit auf der Zeche Hugo. "Unter Tage muss man sich aufeinander verlassen können. Und das setzt sich im Privaten fort."

Heute schürt der Nachbarschaftsverein ein Gefühl der Gemeinschaft. Mit Ferienprogrammen für Kinder, Näh- und Kochkursen oder Feiern. Denn das Bergwerk taugt auf Dauer nicht mehr als Kitt für die Siedlung. Die Zeche hat im Jahr 2000 dichtgemacht, und damit kam auch Stück für Stück Bewegung in die Mieterstruktur im Schüngelberg. Nicht jeder, der heute hier wohnt, hat eine Bindung zur Kohle. Hinzu kommt, dass die Gemeinschaft mit den Jahren immer internationaler geworden ist. Knapp 40 Prozent der Bewohner kommen nicht aus Deutschland. Das Nebeneinander verschiedener Kulturen, versichert Kessel, bringe keine größeren Probleme mit sich. Zwar feiere der eine oder andere häufiger mal ein wenig zu laut. Aber das lasse sich regeln.

Bayern-Fan? Das wird hier gerade noch so akzeptiert

Nur wenn es um Fußball geht, sind die Schüngelberger wenig tolerant. Wer hier in Sichtweite des Stadions von Schalke 04 wohnt, hat auch Anhänger der "Königsblauen" zu sein. Und der freut sich selbstverständlich, dass im Nachbarschaftshaus der Kolonie alles voller S04-Devotionalien ist. Andere Fußball-Vorlieben? Bayern vielleicht? Oder Dortmund? "Hier um die Ecke wohnt ein Bayern-Fan", sagt Kessel und verzieht geringschätzig das Gesicht. Soll heißen: Ist nicht toll, wird aber noch soeben geduldet. Was aber nur schwer geht im Schüngelberg, ist, Anhänger von Borussia Dortmund zu sein. "Einer hat mal gewagt, eine schwarz-gelbe Fahne rauszuhängen. Die hat dann aber nicht lange am Mast gehangen", erinnert sich Kessel. Das hört sich so an, als habe er, der Vorsitzende des Fördervereins, es ganz gut gefunden, dass sich diese Art Vielfalt gar nicht erst breitmacht in der Siedlung.

© SZ vom 09.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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