Samstagsessay:Wird schon werden

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Gut, die Zeiten sind hart. VW manipuliert, Europa streitet, die Terrorangst wächst. Kein Grund, sich zu verkriechen!

Von Angelika Slavik

Wenn man Bilanz zieht, muss man sagen, dass es auch im Jahr 2015 eine Konstante gab, auf die man sich verlassen konnte. Die Konstante hieß Helene Fischer. Helene Fischer war in diesem Jahr ebenso unvermeidlich wie 2014, sie lächelte und sang und lächelte und sang, sie war blond und freundlich und belegte gefühlt wöchentlich Rang eins bei irgendwelchen Abstimmungen über die Traumfrauen der deutschen Männer. Kurz: Helene Fischer war genau wie immer.

Wenn man Bilanz zieht, muss man aber auch sagen, dass viele andere Gewissheiten in diesem Jahr gelitten haben. 2015 hat Vertrauen gekostet, in vielen verschiedenen Bereichen: Das Vertrauen in die Qualität deutscher Autos zum Beispiel ist weltweit erschüttert worden durch die Manipulationen bei Volkswagen. In der Flüchtlingskrise hat das Vertrauen zwischen den EU-Staaten Schaden genommen, die Idee der offenen Grenzen, und zwischenzeitlich auch das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit Europas. Wirtschaftlich vertraut niemand den Griechen. Zudem haben die Terroranschläge in Paris und der Alarm in Hannover das Grundvertrauen vieler Menschen in Deutschland erschüttert.

Natürlich ist die Frage, wem und worauf man vertraut, eine zutiefst persönliche. Dennoch ist der Vetrauensverlust, der in den vergangenen Monaten in diesen vielen verschiedenen Bereichen stattgefunden hat, ein Problem. Denn Vertrauen ist nicht nur eine Frage des persönlichen Wohlbefindens. Es ist auch ein Wirtschaftsfaktor. Es ist, vielmehr noch, die unbedingte Voraussetzung für den Wohlstand von morgen.

Welchen Stellenwert Vertrauen in unserem Wirtschaftssystem hat, zeigt sich im Großen wie im Kleinen: Wenn zum Beispiel Unternehmen ihre Waren an Kunden liefern und eine Rechnung mitschicken, vertrauen sie darauf, dass diese Kunden die Rechnung auch bezahlen werden. Dass sie bereit sind, dieses Risiko einzugehen, liegt natürlich auch daran, dass sie, selbst wenn ein einzelner Kunde ihr Vertrauen enttäuschen sollte, immer noch ein Rechtssystem haben, auf das sie vertrauen können. Nur deshalb können sie ihre Waren so schnell und so umkompliziert ausliefern - was wiederum der Grund dafür sein könnte, warum die Kunden überhaupt bei diesen Unternehmen ordern. Deshalb wirkt Vertrauen als Motor für die Wirtschaft.

Jeder, der Bargeld hat, vertraut darauf, dass er für das hübsche bunte Papier irgendwas kriegt

Als im Herbst 2008 das Bankensystem auf der Kippe stand, sprachen die Kanzlerin und der damalige Bundesfinanzminister eine Garantie aus: Die Spareinlagen bei den deutschen Banken seien sicher, sagten sie, die Bundesregierung bürge für das Vermögen der Sparerinnen und Sparer. Das war ein gewagter Schachzug, und er verdeutlicht gut, welches Gewicht Vertrauen und Misstrauen in der Wirtschaft haben: Merkel und Steinbrück warfen damals ihre ganze persönliche Reputation und das Vertrauen der Bürger in den Staat in die Waagschale, um zu verhindern, dass Menschen massenweise ihr Geld von der Bank holen und die Institute zusammenbrechen. Das Kalkül ging auf, die Menschen vertrauten dem Wort der Kanzlerin - und eben dieses Vertrauen war die Voraussetzung dafür, dass sie ihr Versprechen überhaupt einhalten konnte.

Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: Stefan Dimitrov)

Auch das heutige Währungssystem beruht auf Vertrauen: Jeder, der etwas verkauft und dafür Bargeld entgegennimmt, vertraut darauf, dass er für die hübschen bunten Scheine auch am nächsten Tag noch etwas kriegt. Er glaubt an das System, auch wenn Dollar und Euro nicht mit Goldreserven hinterlegt sind.

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama kategorisierte schon vor 20 Jahren Staaten nach dem Maß des dort vorhandenen Vertrauens - weil er das für den entscheidenden Faktor für die künftige wirtschaftliche Entwicklung hielt. Da ist es kein Wunder, dass alle Akteure versuchen, ihre Vertrauenswürdigkeit unter Beweis zu stellen: Wer heute eine Wohnung sucht, kommt schon zur Besichtigung mit einem ganzen Ordner an Unterlagen, die die eigene Redlichkeit dokumentieren sollen; Wirtschaftsauskunfteien wie Schufa, Infoscore oder Creditreform haben aus Vertrauensbildung ein Geschäftsmodell gemacht.

Vertrauen ist gut, Kontrolle ist für Besserwisser, singt die Kölner Band AnnenMayKantereit.

Was passiert, wenn Vertrauen verloren geht, kann man schon seit Jahren am Beispiel von Griechenland sehen: Erst verlor das Land das Vertrauen der Finanzmärkte, dann stellte es jenes der europäischen Geldgeber auf eine harte Probe. Noch vor ein paar Monaten schien Griechenland nur noch Stunden vom Rausschmiss aus der Euro-Zone entfernt zu sein. Die Lage sei extrem schwierig, sagte die deutsche Bundeskanzlerin damals. Zum einen, wenn man an die wirtschaftliche Lage Griechenlands denke, aber "vor allem, weil die wichtigste Währung verloren gegangen ist, das ist das Vertrauen, das ist die Verlässlichkeit".

Die wichtigste Währung - was also passiert, wenn nicht nur die Griechen sie verlieren, sondern die Gesellschaft und damit auch die Wirtschaft? Tatsächlich scheint es, zumindest auf den ersten Blick, nur logisch, dass man dort, wo das Vertrauen weniger wird, mehr Vorsicht walten lässt. Dass man also seine Geschäftspartner vorsichtiger aussucht, sein Investitionsrisiko reduziert oder sich Fußball einfach im Fernsehen anguckt.

Klingt nach einer guten Strategie? Ist es aber nicht. Denn Wirtschaft und Gesellschaft eint, dass sie ohne Mut und ohne Risikobereitschaft nicht wachsen, fast möchte man sagen: nicht erblühen können.

Volkswagen zum Beispiel ist ein Unternehmen, dessen Glaubwürdigkeit zuletzt aus eigener Schuld schwer gelitten hat. Der neue Konzernchef Matthias Müller hat in dieser Woche nun seine neue Prämisse verkündet, die da lautete: Volkswagen sei fortan ein Ort für "die Neugierigen, die Unangepassten, die Pioniere". Und weiter: "Den Mutigen gehört die Zukunft bei Volkswagen". Ob das so klappen wird, wie er sich das vorstellt, steht auf einem anderen Blatt, aber die Grundidee ist doch bemerkenswert: Mehr Risikobereitschaft in dem Unternehmen soll zu besseren Autos führen und die wiederum zu neuer Vertrauenswürdigkeit.

Diese Rechnung funktioniert nicht nur bei schwer angeschlagenen Unternehmen wie dem Autohersteller VW. Tatsächlich ist Risikobereitschaft die Voraussetzung für Innovation - die wiederum Wachstum und Wohlstand erst ermöglicht.

Diese Risikobereitschaft müssen zum einen die Unternehmen selbst mitbringen, in dem sie unkonventionelle Ansätze und unangepasste Menschen fördern oder wenigstens akzeptieren. Das ist nicht so einfach, wie es vielleicht klingt, schließlich bedeutet alles, was aus der Reihe fällt, Unruhe und Unruhe ist unbequem. Und es bedeutet ein finanzielles Risiko, in Strategien oder Projekte zu investieren, von denen nicht klar ist, ob sie sich rechnen werden. Um sich darauf einzulassen, braucht es also: Vertrauen. Vertrauen darauf, dass man die richtigen Leute an Bord hat. Vertrauen in deren Urteils- und Leistungsfähigkeit.

Die Risikobereitschaft müssen aber auch die Mitarbeiter in den Unternehmen mitbringen. Sie müssen bereit sein, Etabliertes zu hinterfragen, neue Ansätze zu suchen - und mitunter vielleicht auch, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Einen Konflikt mit dem eigenen Vorgesetzten zu riskieren. Sie müssen bereit sein, aus Überzeugung zu agieren und nicht aus karrierestrategischen Überlegungen. Auch dafür braucht es Vertrauen: etwa darauf, dass man in einer Firma arbeitet, die all diese Kämpfe nicht nur erträgt, sondern sogar möchte. Genau dieser Geist war es übrigens, der bei VW gefehlt hat - mit den Konsequenzen daraus versucht das Unternehmen nun zurecht zu kommen.

Seine freiheitliche Überzeugung hat Europa zu Wachstum verholfen

Mut ist aber nicht nur in Unternehmen gefragt, sondern auch in Europa. Die jüngsten Terroranschläge waren ein Angriff auf europäische Grundwerte wie Freiheit, Toleranz und Selbstbestimmung. Und es ist nur menschlich, wenn man in der Folge das Bedürfnis nach erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, nach einem Mehr an Kontrolle und Überwachung hat. Aber es wäre ein Fehler, wenn man, getrieben von der Angst, diese europäischen Grundwerte in Frage stellt. Denn diese Grundwerte sind - nicht ausschließlich, aber auch - die Grundlage für die wirtschaftliche Kraft Europas. Der Glaube an Frieden und an Zusammenarbeit, die offenen Grenzen und die gemeinsame Währung haben Europa zu wirtschaftlichem Wachstum verholfen, das es ohne diese Überzeugungen nicht gegeben hätte. Wenn man nun zusieht, wie zwischen den EU-Mitgliedsländern das Misstrauen wächst, wie sich Staaten von den Flüchtlingsströmen vor allem frei machen wollen, statt nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen, wie man vor allem Abwehrreflexe an den Tag legt, wo man auch Chancen erkennen könnte: Muss man Sorge haben, dass diese europäischen Grundwerte aufgegeben werden oder zumindest zwischenzeitlich in Vergessenheit geraten? Das wäre bitter, denn eigentlich bietet die aktuelle Lage für Europa auch Chancen: Die, endlich zu einer ernst zu nehmenden gemeinsamen Außenpolitik zu finden, zum Beispiel. Und die, ihr Improvisationstalent neu zu entdecken, und ihre eigene Integrationskraft. Beides hilft auch der Wirtschaft.

"In God We Trust", wir vertrauen auf Gott, steht auf den Dollar-Noten in den USA. Dass das da steht, finden bei weitem nicht alle Amerikaner gut. Aber unabhängig von religiösen Überlegungen ist die Grundhaltung, die man daraus lesen könnte, doch einen Gedanken wert: Denn ein bisschen mehr Vertrauen, ob man es nun zu Gott hat, zu sich selbst oder in die Stärke dieses Landes oder der Wertegemeinschaft Europa, wäre auch hierzulande nur angebracht.

Es lohnt sich, den jüngsten Unwägbarkeiten mit Mut zu begegnen und mit Haltung. Es lohnt sich, weil ein Land, das von Offenheit und Mut und Vertrauen geprägt ist, lebenswerter ist als eines, das sich mutlos, misstrauisch und ängstlich hat machen lassen. Und es lohnt sich, weil die Wirtschaft von diesen Überzeugungen profitiert: Das Vertrauen von heute ist der Wohlstand von morgen.

© SZ vom 12.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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