Samstagsessay:Irre. Normal. Notenbanken.

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Schwaches Wachstum, niedrige Zinsen - seit der Finanzkrise wurde mit einer ultralockeren Geldpolitik versucht, die Risse im System zu kitten. Längst sind die Retter selbst zum Problem geworden. Es ist Zeit für eine Umkehr.

Von Catherine Hoffmann

Konjunkturforschern und Aktienhändlern ist in der vergangenen Woche ein Schreck in die Glieder gefahren. Janet Yellen, die Vorsitzende der amerikanischen Notenbank, hatte angedeutet, dass die Wirtschaftsdaten der USA nun stark genug seien, um am 21. September die Zinsen zu erhöhen. Die verharren seit Dezember 2008 nahe null Prozent, ein Negativrekord, der die Börsianer jubeln lässt.

Doch aus der Zinserhöhung wurde nichts. Der Grund: Die Wirtschaftswissenschaftler sind nicht zufrieden. Im Jahr acht der nicht enden wollenden globalen Krise ist das Wachstum in praktisch allen Industrieländern - auch in den USA - schwächer als vor der Lehman-Pleite. Die Investmentbank hatte am 15. September 2008 beim Insolvenzgericht in Manhattan Konkurs angemeldet. Mitarbeiter trugen an diesem Tag ihre persönliche Habe in Pappkartons aus dem Büro, sie hatten ihren Job verloren. Und das war erst der Anfang. Überall auf der Welt standen plötzlich Banken vor der Pleite, Regierungen mussten sie retten und rutschten selbst an den Rand des Ruins. Bis die Notenbanken als Retter in der Not eingriffen.

Von dem Schock hat sich die Welt noch nicht erholt, auch wenn man in Deutschland einen anderen Eindruck haben könnte. Hier gibt es mehr Arbeitsplätze, höhere Löhne und Steuereinnahmen, der Wohlstand nimmt zu. Als Durchschnittsdeutscher könnte man also sagen: "Wirtschaftswachstum? Passt!" Doch das hieße die Inselhaftigkeit der deutschen Wirtschaft zu übersehen in einer Welt der Euro-Krise und Arbeitslosigkeit, der Schuldenrekorde und Negativzinsen, der Produktivitätsflaute und des Investitionsmangels.

Längst haben die Auguren dafür einen Begriff geprägt: "New normal" nennen sie diese Welt, in der wir schon seit vielen Jahren leben. Anders als der Begriff nahelegt, kann von Normalität keine Rede sein. Die Formel ist irreführend, will sie doch glauben machen, dass die Wirtschaft nach dem Absturz in den Jahren 2008 und 2009 ein neues Gleichgewicht erreicht hätte, wenn auch mit kleineren Zinsen und schwächerem Wachstum, dafür aber stabil. Doch das ist ein Trugschluss.

Das Fragile ist auf Störungsfreiheit angewiesen. Das macht es so verletzlich

Treffender ist deshalb ein Begriff, den Professor Thomas Mayer vorgeschlagen hat, Leiter einer Denkfabrik des Vermögensverwalters Flossbach von Storch, früherer Chefvolkswirt der Deutschen Bank und Kritiker des bestehenden Geldsystems: "The New Fragil". Es beschreibt eine zerbrechliche Weltwirtschaft, anfällig für Schocks jeder Art. Ursache dieser Fragilität ist das Krisenmanagement der vergangenen Jahre, vor allem die Geldpolitik.

Mayer ist Fan von Nassim Nicholas Taleb, der hat den Begriff auf die Ökonomie gemünzt in seinem Buch "Antifragilität - Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen". Fragilität beschreibt er darin als "Unfähigkeit, Unbeständigkeit zu vertragen". Zufälligkeit, Unsicherheit, Irrtümer, Stress: Mit solchen Unwägbarkeiten kommt die neue Wirtschaftswelt nicht zurecht. Sie ist zart wie die Porzellantasse aus Meißen, die sorgsam in der Vitrine aufbewahrt wird, um sie vor den ungestümen Kindern zu schützen. Das Fragile ist auf Störungsfreiheit angewiesen. Das macht es so verletzlich. Nun ist die Fragilität kein wissenschaftlich definierter Begriff, der in der Ökonomie etabliert wäre. Und doch beschreibt er die missliche Lage der Welt recht gut.

Illustration: Lisa Bucher (Foto: a)

Beispiel USA: Oberflächlich betrachtet können die Amerikaner zufrieden sein mit ihrer Wirtschaft. Und doch: In den fünf Jahren vor der Finanzkrise wuchs das Bruttoinlandsprodukt um durchschnittlich 2,7 Prozent im Jahr, seither sind es nur 1,8 Prozent. Zugleich ist das geringere Wachstum mit deutlich höheren Schwankungen als früher verbunden. Das wilde Flackern der Wirtschaftsleistung macht auch die Notenbanker nervös. Wie in Amerika, so im Rest der Welt: allerorten Stottern. In den wichtigsten Industrieländern lahmt die Konjunktur. Auch die Inflation bereitet den Ökonomen Sorgen, nicht etwa, weil sie zu hoch wäre, sondern weil sie seit vielen Jahren schon zu niedrig ist. Banken, Privathaushalte, Staaten sind weiter extrem hoch verschuldet, weil die Bilanzen von den Exzessen der Vor-Krisen-Jahre nie bereinigt wurden. Nun drückt die Schuldenlast die Nachfrage. Das Produktivitätswachstum, vielleicht der beste Indikator für die Vitalität einer Wirtschaft, wird entweder nicht richtig gemessen oder ist tatsächlich bloß ein Schatten seiner selbst.

Das liegt auch am hohen Bestand fauler Kredite in den Bankbilanzen. Um Abschreibungen zu vermeiden, erneuern die Institute häufig Kredite an hoch verschuldete Unternehmen, die Zinsen sind ja günstig. Damit erhalten sie unproduktive Betriebe am Leben, während produktiven Firmen oft genug das Geld fehlt, um sich zu entwickeln. Besonders gravierend ist das Problem in Italien, wo die Banken auf notleidenden Krediten im Umfang von 367 Milliarden Euro sitzen; das entspricht 18,1 Prozent ihres gesamten Kreditportfolios, ein stattlicher Brocken.

Die Anleger betrachten europäische Banken skeptisch. Ihre Aktienkurse sind so niedrig wie auf dem Tiefpunkt der Krise. Das allein zeigt, wie prekär die Lage ist. An die gut gemeinten Reformen zur Bankenrettung glauben die Investoren längst nicht mehr. Sie sind überzeugt: Die Haftungsgemeinschaft von Banken und Staaten lässt sich nicht mehr auflösen. Retter in letzter Instanz sind und bleiben die Notenbanken, die mehr und mehr Gefangene ihrer eigenen Politik werden.

Je verbissener die Notenbankchefs an ihrer ultra-lockeren Geldpolitik festhalten, desto finsterer wird die Lage. Wenig deutet bislang auf eine Abkehr hin: Die Bank von Japan verdoppelte zuletzt ihre Käufe von börsengehandelten Indexfonds (ETF), mit denen sie den heimischen Aktienmarkt stützt. Inzwischen besitzt sie mehr als die Hälfte aller ETFs auf japanische Unternehmen und dank ihrer Anleihenkäufe 38 Prozent der japanischen Staatsanleihen. Das japanische Beispiel scheint Schule zu machen: Die Bank von England verstärkte ihre Kaufprogramm nach dem Brexit-Votum noch einmal. Die Europäische Zentralbank dürfte ihre Ausgaben für den Erwerb von Staats- und Unternehmensanleihen - monatlich 80 Milliarden Euro - bald schon ausweiten. Es ist schon heute das größte Experiment in der Geschichte der Währungsunion. Nur in den USA versucht Janet Yellen verzagt, ein wenig Normalität einkehren zu lassen - und traut sich doch nicht.

Welche Folgen dieser gigantische Markteingriff haben wird, ist noch völlig unklar. Nur eines zeigen die ungewohnten Maßnahmen schon heute in aller Deutlichkeit: Die Geldpolitik hat sich mit der Aufgabe, das Wachstum im Alleingang anzukurbeln, zu viel aufgebürdet. Zu viel Macht und Verantwortung sind nun bei wenigen Notenbankern gebündelt, die zentral ganze Volkswirtschaften lenken, und doch nur die Risse im System kitten. Die übergroße Präsenz der Währungshüter an den Märkten erinnert fatal an die kommandobasierte Wirtschaftspolitik Chinas. Beide Regime sind im Sinne von Taleb fragil, ganz einfach, weil ein zentralisiertes System krisenanfälliger ist als ein dezentrales, also marktgesteuertes, bei dem viele Akteure unabhängig voneinander ihre Entscheidungen treffen.

Das neue Selbstverständnis der Notenbanker ist für viele Politiker bequem, entlässt es sie doch aus der Verantwortung für das hässliche Erbe der Finanzkrise. Auch für die meisten Anleger sind die Stützungskäufe der Notenbanken längst zu einer festen Größe in ihrem Kalkül geworden. Märkte und Wirtschaft aber macht es noch abhängiger vom Treiben der Notenbanken und damit nicht sicherer, sondern fragiler. Und das ist das Kernproblem der Rettungspolitik: Sie vermittelt ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit, das täuscht. In Wahrheit schwächen die fortgesetzten Eingriffe die Selbstheilungskräfte des Marktes.

Normalerweise stehen in einer Marktwirtschaft nicht alle Ampeln auf Grün

So hält die ultralockere Geldpolitik Zombie-Banken am Leben, die ohne die günstige Kredithilfe längst pleite wären. Sie treibt in Deutschland die Kurse von Aktien und Immobilien himmelwärts. Sie veranlasst Staaten, ihre Ausgaben und Schulden weiter aufzublähen. Sie lenkt Geld in Projekte mit geringer Rendite, die sich ohne die Nullzinsen nicht rechnen würden. So lähmt die Geldpolitik Investitionen, Produktivität und Wachstum.

Davor warnt seit Langem schon ein einflussreicher Mann aus Basel, Claudio Borio, Chefökonom der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Nirgendwo sonst haben Ökonomen so umfassenden Zugriff auf den Datenfluss, den die Notenbanken liefern. Die Analysen der BIZ zählen darum zum Besten, was die Zunft zu bieten hat. Und was sagt Borio? Er ist davon überzeugt, dass die Zentralbanken selbst zum Problem geworden sind. "Die Geldpolitik hat es versäumt, sich gegen nicht nachhaltige Finanzbooms zu stemmen", schreibt er in einem Beitrag für das Cato Journal. Stattdessen habe sie auf jedes Platzen mit besonders aggressiven Maßnahmen geantwortet - Niedrigzinsen, Wertpapierkäufe etc. - und so die Saat für die nächste Krise gelegt. "Zu geringe Zinsen in der Vergangenheit sind ein Grund für niedrige Zinsen heute", resümiert Borio. Eine Umkehr werde schwieriger, je länger das Spiel betrieben wird.

Es ist also höchste Zeit, die expansive Geldpolitik zu beenden und die massiven Eingriffe in den Markt zu bremsen. Die Ökonomen Hans-Werner Sinn und Gunther Schnabl haben einen Vorschlag gemacht, wie das in Europa gelingen könnte: Denkbar wären kleine Zinsschritte von 0,25 Prozentpunkten alle sechs Monate über einen langen Zeitraum hinweg. So hätten überschuldete Staaten, angeschlagene Banken und lahme Unternehmen genügend Zeit aufzuräumen, und das Vertrauen der Sparer in die Geldordnung würde wiederhergestellt. Vor allem aber könnte der Zins wieder seine Lenkungsfunktion als eine Art Ampel im Straßenverkehr der Marktwirtschaft übernehmen. Normalerweise stehen einige auf Grün, andere auf Gelb, manche auf Rot. Die meisten haben seit 2008 nur noch grün angezeigt.

Die Vorschlag ist radikal, aber richtig: Bei einem Weiter-so riskieren die Notenbanker, dass das Geldsystem irgendwann unter dem Druck zerbricht. Es wäre nicht das erste Mal.

© SZ vom 24.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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