Samstagsessay:Gefährlicher Irrtum

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Illustration: Sead Mujic (Foto: N/A)

Die Bundesregierung will den Strukturwandel mit Subventionen bekämpfen. Doch das ist ein Fehler. Wenn Industrien zusammenbrechen, sind Milliardenhilfen nicht die Lösung.

Von Karl-Heinz Büschemann

Die Deutschen - seien es Politiker, Medien oder normale Bürger - haben ein neues Lieblingswort: Alle reden vom Strukturwandel. Der treibt überall sein Unwesen und droht die Zukunft der Nation zu gefährden. Im Ruhrgebiet ist dieser sperrige Begriff noch immer mit Furcht verbunden, weil er für den brutalen Abstieg einer Region nach dem Ende der Steinkohle steht, ohne den vollständen Wiederaufstieg geschafft zu haben.

In der ostdeutschen Lausitz steht schon wieder ein Strukturwandel an, diesmal ist es wegen der Braunkohle, weil der Brennstoff als Klimakiller Nummer eins und seine Förderung wie die Stromerzeugung mit dem Energieträger bis 2038 beendet sein soll. Das gefährdet viele Tausend Arbeitsplätze in der ostdeutschen Region an der polnischen Grenze. Aber dabei bleibt es ja nicht: Auch die Autoindustrie droht auf den Kopf gestellt zu werden, weil der Verbrennungsmotor am Ende zu sein scheint. Die Sorge geht um, die elektrische Mobilität könnte sogar Hunderttausende Arbeitsplätze bei VW, Daimler oder BMW kosten.

Und weitere Branchen wanken bereits bedenklich: Bei den Banken steht gewaltiger Personalabbau an, und die Frage geistert durch die Belegschaften, ob die heutigen Kreditinstitute überhaupt noch gebraucht werden. Und der Berliner Axel- Springer-Verlag startet gerade einen umfangreichen Stellenabbau. Endzeitstimmung in vielen Bereichen. Innenstädte veröden, während der Internethandel mit seinen Billigjobs boomt.

Ständig erklären Politiker, dass sie sich dieser Strukturprobleme annehmen werden. Sie legen dabei eine ganz neue Entschlossenheit an den Tag. Als löse schon allein dieses Wort bei ihnen einen Hilfsreflex aus, so wie die Spendenaufrufe vor Weihnachten die Spendenbereitschaft der Bürger erhöhen. Und wegen dieses ungewöhnlichen politischen Andrangs auf den Strukturwandel, entsteht der Eindruck, die Lage der Nation sei wahrhaftig ernst.

Die Lausitz wird zur Krisenregion Nummer eins gemacht

Gerade hat Berlin einen Finanzregen von 40 Milliarden Euro als Hilfe für die Kohleregionen versprochen, die jetzt vom Niedergang der Braunkohle bedroht sind. Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) behauptet, der Staat werde seinen Beitrag leisten und den Strukturwandel gerade bei den Zulieferern der Autohersteller "eng begleiten". SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil hat ein liebevoll "Arbeit-von-Morgen-Gesetz" genanntes Maßnahmenbündel auf den Weg gebracht. Das solle den Arbeitsmarkt "für den Strukturwandel durch Digitalisierung und neue Technologien fit machen". Und Wirtschaftsminister Peter Altmaier von der CDU hat sich eine besonders hübsche Formel ausgedacht, wie er dem befürchteten Absturz des ostdeutschen Braunkohle-Landstrichs Lausitz zur Seite stehen will. Kein Arbeitsplatz, so versprach er in der Region, solle verschwinden, ohne dass vorher ein neuer geschaffen wurde.

Das klingt großartig, als sei die Zukunft des Wirtschaftsstandortes bei der Bundesregierung in besten Händen. Kaum ein politischer Vorschlag in Berlin kommt noch ohne den Hinweis aus, es gehe um den Strukturwandel. Mit dieser Inflation von Vorschlägen ist aber auch klar: Der Begriff ist zur überparteilichen Leerformel geworden und zum hohlen Versprechen.

Besonders die Lausitz, jener Landstrich von Brandenburg und Sachsen, mit etwa einer Million Menschen, wird faktisch zur Krisenregion Nummer eins gemacht. Das Gebiet mit Städten wie Cottbus, Görlitz oder Bautzen, hat die Aufmerksamkeit der Politiker auf sich gezogen, weil der Ausstieg aus dem klimafeindlichen Energieträger nach dem Willen der Bundesregierung in weniger als 20 Jahren gelungen sein soll. Dabei wird betont, in dieser Region müssten aber die Fehler vermieden werden, die an der Ruhr gemacht wurden.

Das westdeutsche Industriegebiet zwischen Dortmund und Duisburg gilt als abschreckendes Symbol für einen verschleppten Strukturwandel und als Mahnmal für politische Versäumnisse. Angesichts der Präsenz der Lausitz in Politikerreden könnte der Eindruck entstehen, in diesem Landstrich entscheide sich die nationale Zukunft. Dieser Eindruck täuscht. Die Lausitz ist nur ein Fleckchen Erde im Verhältnis zum Ruhrgebiet. Noch arbeiten in dieser ostdeutschen Region 8000 Menschen in der Braunkohle. Für die Lausitz ist das viel. Für die Bundesrepublik nicht. Allein im rheinischen Braunkohlerevier ist die Zahl der Braunkohlearbeitsplätze größer. Und an der Ruhr arbeiteten im Jahr 2000 noch mehr als 25 000 Menschen in der Kohle, und da galt der Strukturwandel schon als fast abgehakt.

Das allerdings darf das Recht der Lausitzer auf politische Hilfe in der Not nicht schmälern. Die Braunkohleregion braucht Unterstützung, wenn ihre wichtigste Industrie ausradiert werden soll. Die Frage ist nur: welche? Ist es sinnvoll mit dem Feuerlöschflugzeug über die Republik zu fliegen und Milliarden abzukippen, wie das gerade geplant ist? Lässt sich aus den Fehlern, die an der Ruhr passierten, für diesen geplagten Landstrich etwas lernen?

Die Region an der Ruhr hat sich einigermaßen von ihrer Jahrhundertkrise erholt. Aber das hat mehr als ein halbes Jahrhundert gedauert, und es gelang nicht durch das Verteilen von Milliarden. Der jahrzehntelang über dem Ruhrgebiet ausgeschüttete Subventionsregen zugunsten der Kohle hat den Ausstieg sogar verzögert. Auch die politisch geförderte Ansiedelung von neuen Industrien und Arbeitsplätzen mit Steuerhilfe hat nicht viel gebracht, wie die Beispiele von Opel oder Nokia in Bochum zeigen. Beide Unternehmen sind längst schon wieder verschwunden.

Der Erfolg kam vor allem durch die Ansiedelung von Hochschulen in den Städten entlang der Ruhr. So bekamen wenigstens die Söhne und Töchter von überflüssig gewordenen Bergarbeitern in der Region eine anspruchsvolle Ausbildung. Viele von ihnen blieben, gründeten selbst Firmen, oder sie waren attraktive Beschäftigte für Unternehmen, die sich gern dort ansiedeln, wo es Fachkräfte gibt. Das Ruhrgebiet wurde vom Menschenexporteur wieder zum Zuzugsgebiet, und es entsteht Neues auf den Trümmern des Alten. Aber diese Erholung ließ sich ein bis zwei Generationen Zeit. Für Politiker, die im Vier- bis Fünfjahresrhythmus bis zur nächsten Wahl denken, ist das wenig interessant. Sie wollen schnellere Erfolge.

Doch die gibt es nicht in der Strukturpolitik. Sie ist das Bohren dicker Bretter, sagen alle Fachleute. Dass der Staat Investitionen nur fördern, aber nicht ersetzen kann, hat das Ende der Werftenindustrie an der Nordseeküste gezeigt, der Niedergang der deutschen Unterhaltungselektronik oder der Büromaschinenindustrie in Franken. Der Staat konnte im Saarland keine Jobs schaffen, wo ausländische Konkurrenz die Schuhindustrie weggeblasen hat. In der Stahlindustrie hat die Subventionspolitik der europäischen Regierungen das Siechtum der Hütten verlängert und die Leidenszeit der betroffenen Regionen nur ausgedehnt.

Die Annahme, man könne mit politischer Hilfe eine Industrie durch eine andere ersetzen, ist ebenso verlockend wie sie falsch ist. Schon das Reden von "Ersatzarbeitsplätzen" deckt diesen Denkfehler auf. Die ernüchternden Erfahrungen mit Umbrüchen in Industrieregionen zeigen, dass es so gut wie unmöglich ist, einen Menschen aus einer Traditionsindustrie mal eben in die neue Arbeitswelt zu versetzen.

Politiker verhalten sich gern wie Feuerwehrleute, die dann eingreifen, wenn es zu spät ist

Die deutsche Wirtschaftspolitik unterliegt einem Irrtum: Sie geht fatalerweise davon aus, dass Strukturwandel, also das nahende Ende einer Industrie, ein Unfall in der ansonsten positiven Entwicklung der Volkswirtschaft ist, der von der Regierung abgefedert werden müsse. Diese Sicht auf die Veränderungen der Volkswirtschaft ist nach dem geräuschvollen Verschwinden zahlreicher Industrien - nicht nur im Ruhrgebiet - noch immer nicht ausgerottet. Strukturpolitik hat nie ein Ende. Allerdings sollte sie auch keinen Anfang haben, der von Krisen bestimmt wird. Jede Wirtschaftspolitik muss so gestaltet sein, dass sie den stetigen Wandel der Wirtschaft fördert, das ständige Aufwachsen neuer Unternehmen und Technologien, die alte Branchen ablösen. Dass der Softwarekonzern SAP, das inzwischen teuerste deutsche Unternehmen, einst den Dampfkesselbauer Babcock im Aktienindex Dax ablöste, ist ein Erfolgszeichen, kein Krisensymptom.

Aber an einer nachhaltig angelegten Wirtschaftspolitik fehlt es. Seit Jahren zeigen Studien, dass die Infrastruktur in Deutschland von Bahnlinien bis zur schnellen Telekommunikationsleitung bedenklich im Argen liegt. Wo die Bahnverbindungen mangelhaft sind und sogar noch schlechter werden, können keine Industriearbeitsplätze entstehen.

Gerade erst beklagte das World Economic Forum, das jedes Jahr in Davos den weltbekannten Wirtschaftskongress abhält, die Industrienation Deutschland sei in der Rangfolge der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften von Rang drei im vergangenen Jahr auf Platz sieben in diesem Jahr zurückgefallen. Deutschland tut zu wenig für die Grundlagen seiner Wirtschaftsentwicklung.

Es fehlt die Sicht, dass Strukturpolitik wie die Arbeit eines Gärtners ist, der von langer Hand die spätere Blüte seiner Pflanzen vorbereitet. Lieber verhalten sich Politiker wie Feuerwehrleute, die dann rettend eingreifen, wenn es zu spät ist. Und damit legen sie ein Dilemma offen: Sie müssen immer die nächsten Wahlen gewinnen. Für langfristiges Handeln haben sie kaum Anreize. Das nutzen in Ostdeutschland rechte Kräfte wie die AfD. Wo es der Braunkohle schlecht geht, gewinnen die Radikalen erfolgreich Abgeordnetenmandate.

Und was macht die vermeintlich so um den Strukturwandel bemühte Bundesregierung in der Lausitz-Krise? Sie vergibt ein neues Zentrum für Batterietechnologie, das am Auto der Zukunft forschen soll, nicht nach Ostdeutschland, sondern ins westfälische Münster. Cottbus oder Görlitz hätten diesen Forschungsschub nötiger gehabt als die westfälische Wohlstandsmetropole. Die zuständige Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU), die eine gelernte Hotelkauffrau ist und deren Wahlkreis im Westfälischen liegt, hatte schon früher den entlarvenden Satz von sich gegeben, Deutschland brauche ja auch nicht "an jeder Milchkanne" eine schnelle Internetverbindung. Doch, das braucht das Land. Die Ministerin irrt.

Mit solcher Blindheit für die langfristigen Belange einer wirtschaftsschwachen Region wird deutsche Strukturpolitik zu keinem Erfolgsmodell. So entsteht erst recht die Enttäuschung bei den Wählern, die mit einem Kreuz bei rechtsradikalen Profiteuren ganz einfache und schnelle Lösungen erwarten.

© SZ vom 12.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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