Es ist genau zehn Jahre her, als in Deutschland immer lauter nach einem gesetzlichen Mindestlohn gerufen wurde. Rasant war die Zahl jener gestiegen, die nur wenige Euro die Stunde verdienten. Globalisierung, neue Technologie und die Schwächung der Gewerkschaften drückten die Bezahlung. Da fühlten sich die meisten deutschen Ökonomen gefordert, Position zu beziehen - gegen einen Mindestlohn.
In der Debatte um eine staatliche Lohnuntergrenze fehlten die Fakten, erklärte das Wirtschaftsinstitut RWI. Und lieferte welche der gesalzenen Art: Ein Mindestlohn von 7,50 Euro koste 1,2 Millionen Arbeitsplätze und führe "auch für die öffentlichen Haushalte zu erheblichen Belastungen". Das Ifo-Institut Dresden sekundierte: minus 1,1 Millionen Jobs. Und betete dazu die klassische Theorie vor: "Steigt der Preis für Äpfel, werden weniger Äpfel gegessen. Aber auf dem Arbeitsmarkt glaubt man, von diesem Grundprinzip abweichen zu können." Soll heißen: Werden die Äpfel, Pardon, die Arbeiter teurer, werden sie halt gefeuert.
Wegen solcher Thesen durfte Bundeskanzlerin Angela Merkel Sachverstand reklamieren, als sie sich vor der Wahl 2009 brüstete: "Wir haben in schwierigen Diskussionen mit der SPD den flächendeckenden Mindestlohn verhindert." Der hätte "eine größere Zahl Arbeitsplätze gekostet", echote Merkel die Ökonomen.
Vier Jahre später machte die SPD die gesetzliche Lohnuntergrenze zur Bedingung dafür, erneut in eine - schon damals ungeliebte - große Koalition einzuwilligen. Wieder warnten deutsche Ökonomen: Das vernichtet knapp eine Million Jobs.
In Wahrheit kostet der Mindestlohn kaum Jobs. Fast vier Jahre später haben so viele Deutsche Arbeit wie nie. Und sehr viele der fünf Millionen Bürger, die früher weniger als den heutigen Mindestlohn verdienten, haben jetzt mehr Geld. Es könnte sein, dass in einer echten Krise einige Jobs verloren gehen, aber unterm Strich ist das Ganze ein Erfolg. Und die deutschen Ökonomen?
Haben sich ziemlich blamiert. Das ist einer der Fälle, wegen derer Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit um den Ruf seiner Zunft fürchtet (das IZA selbst sagte unter Schneiders Vorgänger "signifikante Jobverluste" voraus). Es ist bei Weitem nicht der einzige Fall. Fast alle Ökonomen warnten damals vor einem Mindestlohn, der jetzt keine Probleme macht. Fast keiner aber warnte vor dem Entstehen der Finanzkrise, die Deutschland und dem Rest der Welt 2008 riesige Probleme machte.
Solche Pannen sind eine Mahnung, dass Deutschlands Ökonomen einiges tun sollten, um ihren Wert für die Gesellschaft zu steigern. Diese Gesellschaft braucht sie mehr als je zuvor. Kompetentere Politikberatung würde helfen, die Republik durch komplizierte Zeiten zu steuern - und zu verhindern, dass Wohlstand und Demokratie zu Bruch gehen.
Die Ungleichheit und den Verfall von Schulen zu ignorieren, half den Rechtspopulisten
Was auf dem Spiel steht, zeigt sich am Mindestlohn. Weil ab den 90er-Jahren die Ungleichheit zunahm, wuchs der Frust der Bürger, gerade der schlecht bezahlten. Er wuchs sicher auch deshalb weiter, weil - auf Rat der Ökonomen - kein Mindestlohn ihre Bezahlung aufbesserte. Damals baute sich Frust auf, der später die AfD stark werden ließ.
Dafür allein das lange Ausbleiben des Mindestlohns verantwortlich zu machen, wäre irre. Doch das lange Ignorieren des Lohndumpings addiert sich zu anderen Versäumnissen, die die Populisten ausnutzen: das generelle Ignorieren der Ungleichheit und des Infrastrukturverfalls durch die etablierten Politiker. Bestärkt von Ökonomen, die Umverteilung verdammen, aber die schwarze Null verehren statt Investitionen in Straßen und Schulen.
Der Schaden der Finanzkrise, die die Ökonomen verpennten, ist genauso groß: höhere Staatsschulden, Arbeitslose und eine andere Art Umverteilung - von Normalverdienern zu den Bankern und Investoren, die die Krise verursachten.
Was die Gesellschaft jetzt von den Ökonomen braucht, ist kein beleidigter Rückzug in den Elfenbeinturm (da verschanzen sich schon genug). Sondern bessere Politikberatung als bisher (und dafür gibt es ja exzellente Beispiele). Die Anforderungen lassen sich in einem Dreiklang formulieren: mehr Dogmen hinterfragen und Widersprüche diskutieren. Mehr Ergebnisse überprüfen. Und mehr Relevanz statt abgehobener Spielereien. Aber der Reihe nach.
Dogmen sollten die Ökonomen zum Beispiel hinterfragen, wenn sich wie vor der Finanzkrise 2008 gigantische Kreditblasen aufbauen. Das althergebrachte Modell vom rationalen homo oeconomicus ging damals mit bankrott. Denn Hauskäufer erwarteten irrational, dass die Preise immer steigen. Und Banker spekulierten ohne Rücksicht auf Verluste (die sie auch noch auf die Allgemeinheit abwälzen durften).
Ähnlich unkritisch wie das Festklammern am homo oeconomicus wirkt die Fixierung auf die Äpfel beim Mindestlohn. "Steigt der Preis für Äpfel, werden weniger Äpfel gegessen", so sagte 2008 das Ifo-Institut. "Tatsächlich gelten die Regeln, die auf den Gütermärkten allgemein anerkannt sind, in ähnlicher Weise auf den Arbeitsmärkten." Weshalb ein Mindestlohn angeblich automatisch Arbeitsplätze kostet. Aber ist das wirklich so?
Besser, als Äpfel mit Birnen zu vergleichen, wäre es gewesen, vom Dogma in die Realität zu wechseln. Und zum Beispiel die gestiegene Marktmacht der Unternehmen einzukalkulieren. Unter bestimmten Umständen steigert die Firma ihren Gewinn, wenn sie die Gehälter besonders niedrig lässt. Ein staatlich verordneter Mindestlohn erhöht dann die Beschäftigung.
Die deutschen Ökonomen hätten nach Großbritannien blicken können, wo Tony Blair schon 1999 eine staatliche Lohnuntergrenze eingeführt hatte. Die Folgen sind "wissenschaftlich so gut untersucht wie in kaum einem anderen Land", warb damals der Forscher Joachim Möller. In Großbritannien zeigte sich eben: Der Mindestlohn kostete kaum Beschäftigung, half aber vielen Schlechtbezahlten.
Ökonomen versäumen, sich kritisch mit unterschiedlichen Positionen auseinanderzusetzen. Sie lassen sich zu sehr vom Zeitgeist prägen. Der wehte die vergangenen 30 Jahre neoliberal. Und so kanzelten die meisten Ökonomen den Mindestlohn ab - und ignorierten die Gefahren von Ungleichheit und Finanzkrise. Beides passte zum klassischen Marktdogma.
Vor dem Aufstieg des Neoliberalismus waren zahlreiche Ökonomen in die andere Falle getappt. Sie vulgarisierten die Lehre von John Maynard Keynes, wonach der Staat in der Krise Geld ausgeben muss. Sie empfahlen auch in relativ normalen Zeiten Ausgaben, trotz Inflation und Staatsschulden. Die Politiker der 60er- und 70er-Jahre nahmen das begeistert auf - und scheiterten krachend.
Keynes hatte appelliert, auf die Schulden zu achten. Die Übertreibungen seiner Epigonen ebneten den Weg für die Neoliberalen. Die schütteten bald das Kind mit dem Bade aus, indem sie den Markt zum Dogma erhoben - was genauso falsch war wie der Staatsinterventionismus zuvor.
Ökonomen sind gefordert, herrschende Lehren zu hinterfragen, egal, woher der Zeitgeist gerade weht. Irren ist menschlich, egal, ob einer marktliberal tickt oder staatsgläubig. Das zeigt sich auch bei der zweiten Herausforderung, der sich die Volkswirte stellen sollten: gegenseitig ihre Ergebnisse überprüfen. Das geschieht zu selten. Der Neuseeländer Robert Reed untersuchte die angesehensten Fachjournale. Fazit: In 40 Jahren beschäftigten sich nur 0,1 Prozent aller Aufsätze damit, andere Aufsätze zu überprüfen. Als US-Ökonomen 2015 flächendeckend Studien nachrechneten, kamen sie nur in jedem zweiten Fall auf gleiche Ergebnisse.
Wenn mal nachgerechnet wird, erweisen sich politisch bedeutsame Thesen als fehlerhaft. Und zwar egal, ob sie eher linken oder konservativen Parteien in den Kram passen. So schlampte das Berliner DIW-Institut in einer Studie, die das Schrumpfen der Mittelschicht diagnostizierte. Und die US-Größen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff schluderten 2010 bei der These, ab 90 Prozent Staatsschulden knicke das Wirtschaftswachstum ein.
Während die DIW-Studie binnen Wochen korrigiert wurde, dauerte es bei Reinhart/Rogoffs "Growth in a time of debt" mehr als drei Jahre. In diesem Zeitraum zementierte die EU ihren umstrittenen Sparkurs für Krisenstaaten wie Griechenland - wobei die Politiker sich die ganze Zeit explizit auf Reinhart/Rogoff beriefen.
Das zeigt: Wissenschaftliche Studien sollten schnell überprüft werden, bevor Fehler Schaden für die Allgemeinheit anrichten - etwa das Bremsen der griechischen Erholung durch harte Sparauflagen. Und es sind die politisch wichtigen Ergebnisse, die Ökonomen prüfen sollten. Die Aufsätze etwa, die sich die ansonsten lobenswerte IREE-Initiative von Hilmar Schneider und Kollegen zur Überprüfung vornimmt, wirken teils zu orchideenhaft.
Nun könnten Forscher aus all dieser Kritik schließen, sie sollten sich am besten zurückhalten. Bloß nicht bei Themen wie Mindestlohn, Mittelschicht oder Sparpolitik vorwagen, die für die Gesellschaft wichtig sind. Doch das wäre die völlig falsche Reaktion. Die Gesellschaft braucht die Ökonomie, weil Wohl und Wehe der Menschen heute wie stets von Wirtschaftsfragen abhängt: Wie lassen sich Hunger, Armut und Wohnungsnot vermeiden?
Warum tauchen all die Forscher ab, die auf einem Lehrstuhl für Handelstheorie sitzen?
Die Ökonomen sollten Rezepte entwickeln, das ist ihre Existenzberechtigung. Doch viele tauchen ab. Warum tauchen in der Debatte um Donald Trumps Handelskrieg immer nur die Gabriel Felbermayrs oder Jens Südekums auf? Wo sind die anderen, die sich auf einem Lehrstuhl für Handelstheorie bezahlen lassen?
Ein Forscher eines Instituts erzählt, wie Kollegen bei einer Studie für ein sozialpolitisches Gremium das Ergebnis 0,3 präsentierten. Er fragte: 0,3 was? Antwort: Das zu konkretisieren, sei wirklich zu schwierig.
Erschütternd daran ist, das störte die Auftraggeber offenbar nicht. Sie wollten lieber ihre ideologischen Steckenpferde reiten, als sich von konkreten wissenschaftlichen Erkenntnissen einengen zu lassen.
Doch genau das sollten Ökonomen leisten: kompetente Beratung, damit Politiker die richtigen Rezepte anwenden statt Ideologie. Nur dürfen die Ökonomen dabei eben nicht selber einer Ideologie verfallen.