sueddeutsche.de: Wie lange wird ein Geschäftsbericht im Schnitt gelesen?
Jochen Rädeker: Drei Minuten, eine extrem kurze Zeit.
sueddeutsche.de: Und wie lange wird daran gearbeitet?
Rädeker: Bei großen Unternehmen sind es durchaus neun Monate, bei kleineren sind es drei bis sechs Monate.
sueddeutsche.de: Ein groteskes Verhältnis ...
Rädeker: Die Relation ist ungesund. Und das Missverhältnis wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, dass so viele Leute daran arbeiten - und nur so wenige es lesen.
sueddeutsche.de: Wer macht sich denn die Mühe?
Rädeker: Finanzanalysten etwa, Kunden, Bewerber und die Kleinaktionäre, die ihn auf der Hauptversammlung bekommen. Aber wahrscheinlich gibt es nur einen Menschen, der ihn richtig durchliest: Derjenige, der ihn verantwortet.
sueddeutsche.de: Und was wird gelesen?
Rädeker: Stellen Sie sich den Bericht wie ein Lexikon vor. Es steht viel drin für Leute, die ganz unterschiedliche Dinge nachschlagen wollen. Besonders häufig wird das Vorwort des Vorstands gelesen. Und die Kennzahlen.
sueddeutsche.de: Dann sind die drei Minuten aber auch schon rum ...
Rädeker: ... darum schauen die Leute dann höchstens noch ein paar Überschriften und Bilder an. Das war es dann.
sueddeutsche.de: Was kostet denn die Erstellung eines Geschäftsberichts?
Rädeker: Bei Dax-Unternehmen sind es schnell 200.000 Euro, bei kleineren Unternehmen vielleicht die Hälfte. Dazu kommen die Druckkosten.
sueddeutsche.de: Wie viele Geschäftsberichte erscheinen jährlich in Deutschland?
Rädeker: Vielleicht 10.000, davon etwa 1500 von börsennotierten Unternehmen. Der Rest erscheint mehr oder weniger auf freiwilliger Basis.
sueddeutsche.de: Mehr oder weniger?
Rädeker: Ab gewissen Umsatzzahlen müssen Unternehmen auch dann einen Bericht veröffentlichen, wenn sie nicht börsennotiert sind. Auch Stiftungen publizieren Berichte.
sueddeutsche.de: Darf in einen Geschäftsbericht alles hinein geschreiben werden?
Rädeker: Theoretisch ja. Das ist das Schöne an einem Geschäftsbericht. Er genießt hohe Glaubwürdigkeit, weil gut die Hälfte des Berichts testiert - also von einem Wirtschaftsprüfer bestätigt - wird. Das macht ihn zu einem attraktiven Medium.
sueddeutsche.de: Die Glaubwürdigkeit eines Geschäftsberichts kann auch missbraucht werden. Wenn der Vorstand schreiben kann, was er will ...
Rädeker: Das ist in der Tat ein Risiko.
sueddeutsche.de: Müssen Geschäftsberichte so langweilig sein?
Rädeker: Nein, denn nur ein Bruchteil der Leser, etwa die Finanzanalysten, sucht die harten Informationen. Der Rest will unterhalten werden.
sueddeutsche.de: Und das funktioniert mit dem guten, alten Werkbild aus der Luft?
Rädeker: Eben nicht. Es sind Menschen, spannende Geschichten und auch mal schräge Dinge, an denen die Leser hängen bleiben.
sueddeutsche.de: Schräge Dinge?
Rädeker: Wir haben bespielsweise mal einen Bericht gemacht, da ging es um die Darstellung der Unternehmenswerte, ein klassisches Thema in diesen Publikationen. Mitarbeiter sollten Gegenstände mitbringen und ein Statement dazu abgeben, was die Werte des Unternehmens auf originelle Art verdeutlichte. Einer brachte beispielsweise ein Pfund Hackfleisch mit. Dann stand dabei: 'Es gibt Dinge, die sind einfach Vertrauenssache.' Ein anderer lieferte ein Feinripp-Unterhose. Hier war die Aussage: 'Am wohlsten fühlt man sich, wenn einem etwas vertraut ist.' Die Fotos entsprachen nicht dem, was sonst in Geschäftsberichten zu finden ist - und so findet man plötzlich über Bildwelten in die Unternehmenswelt hinein.
sueddeutsche.de: Darf es auch mal Slapstick sein?
Rädeker: Das traut sich der Staubsaugerhersteller Vorwerk (siehe Bildstrecke). Dessen Berichte sind kult und werden gesammelt. Doch so weit gehen wir nicht.
sueddeutsche.de: Bei welcher Idee haben Sie bedauert, dass sie nicht von Ihnen ist?
Rädeker: Es gibt einen Bericht aus Österreich von der Palfinger AG. Die Aussage des Berichts war: 'Wir sind gewachsen' - und sämtliche Mitarbeiter bis hin zum Vorstand wurden in platzenden Hemden oder zu kurzen Anzügen präsentiert. Ganz einfache Aussage. Fand ich super.
sueddeutsche.de: Wäre es angesichts der hohen Kosten nicht sinnvoll, die Geschäftsberichte ausschließlich ins Netz zu stellen?
Rädeker: Abgesehen vom Zahlenteil: Nein. Der Geschäftsbericht ist ein Jahrbuch, in dem den Investoren gezeigt wird, was mit ihrem Geld gemacht wurde. Und das Gedruckte vermittelt immer noch einen höheren Grad an Verlässlichkeit. Aber das ist ein emotionales Thema: Schon in der nächsten Generation könnte es ganz anders sein.
sueddeutsche.de: Andererseits ist das PDF im Netz angesichts der Möglichkeiten doch etwas wenig ...
Rädeker: Darum machen die großen Firmen mittlerweile zwei Berichte, einen für den Druck und einen für das Netz, beispielsweise mit interaktiven Bildstrecken und Vergleichsmöglichkeiten für Tabellen.
sueddeutsche.de: Lässt man ihn auch schon diskutieren?
Rädeker: Das machen nur ganz wenige Unternehmen in Ansätzen. Das Thema Web 2.0 steckt da noch in den Kinderschuhen.
sueddeutsche.de: Ihre Empfehlung?
Rädeker: Unternehmen sollten mutiger werden.