Sachsen-Anhalt:Landflucht

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Die Protest-Kuh soll auf niedrige Milchpreise aufmerksam machen. (Foto: Jens Büttner/dpa)

Agrarminister Schmidt will kriselnden Regionen helfen. Der Flüchtlingsstrom könnte die Debatte nun verändern.

Von Markus Balser, Stendal

Wie der demografische Wandel ostdeutsche Regionen entvölkert? Das Örtchen Schinne, zweieinhalb Autostunden von Berlin entfernt und zwölf Kilometer von Stendal in Sachsen-Anhalt, ist ein gutes Beispiel. 560 Menschen lebten hier nach der Wende. Heute sind es noch 400. An kaum einem Ort schrumpft die Bevölkerungszahl schneller. "Grundstücke werden fast verschenkt", sagt Bürgermeister Ralf Berlin. Hinter dem Windpark ziehen sich die Häuser an der Hauptstraße entlang. "Der letzte Arzt ist in den Neunzigerjahren gegangen." Die nächste Autobahn ist weiter entfernt, als an jedem anderen Ort Deutschlands. Schinne wird weiter schrumpfen. "Das ist nicht zu stoppen", sagt Berlin.

Die Gegend um Stendal steht für die Probleme vieler ländlicher Regionen vor allem in Ostdeutschland. Und die härtesten Jahre kommen noch. Denn während Städte im ganzen Land wachsen, wird sich die Landflucht bis 2030 Forschern zufolge vielerorts noch verschärfen. Zur großen Herausforderung ländlicher Regionen wird die alternde Bevölkerung.

Der schnelle Schwund beunruhigt auch die Bundesregierung. Am Mittwoch reiste Agrarminister Christian Schmidt (CSU) zum Bürgerdialog nach Schinne und Umgebung. Es sollte ein Hilfsbesuch werden. Für die Region, denn die Bundesregierung will die Folgen der Landflucht abmildern. Aber auch für den Minister. Denn die ländliche Entwicklung haben die Strategen des Ministeriums als Möglichkeit zur Profilierung ausgemacht. Zu oft bekam Schmidt zu hören, er setze zuwenige Akzente - oder wenigstens die falschen. Als "Minister Fettnapf" beschimpfte der Spiegel den Franken, weil er zum unpassenden Moment etwa über Russlands Präsidenten Putin kalauerte.

Doch der Ausflug des Bundesministers in die Provinz machte klar: Bürger und Regierung reden aneinander vorbei, wenn es um die großen Probleme des Landes geht. Im Dorfladen von Schinne ging für den Minister auf Tour noch alles glatt. Schmidt aß Bockwurst mit Dorfladenbetreiberin Manuela Schell, die für den Ort ein Stück Unabhängigkeit zurück erkämpft hat. Seit ein paar Jahren kann man dank Fördergeldern und ihrer Dorfladeninitiative wieder einkaufen. "Ich bin Baumarkt und Backstube in einem", sagt Schell. "Sie sind der Dorfmittelpunkt", lobt Schmidt. Draußen braut sich derweil mächtiger Ärger zusammen. Denn was die Menschen in dieser ländlichen Gegend bewegt, hat mehr mit den anderen Aufgaben des Ministers zu tun als dem Dorfladen. Der eingebrochene Milchpreis. Während Schmidt drinnen einkauft, keilen Dutzende Milchbauern auf der Straße den Ministerbus mit Traktoren ein. "Wir müssen reden", sagt Bauer Theodor Aue, als der Minister zum Bus will. "Wir verlieren in diesem Jahr 500 000 Euro", klagt Aue. Dass die EU-Kommission erst Anfang der Woche Hilfen bewilligt hat, besänftigt die aufgebrachten Landwirte nicht. "Wir fürchten um unsere Existenz", sagt Aue. "Da hilft dann auch kein Dorfladen mehr." Schmidt hört geduldig zu, spricht von schnellen Hilfen. Die aufgebrachten Bauern beruhigt das kaum. Erst nach einer halben Stunde lassen sie den Minister und seinen Bus ziehen.

Platz für neue Bewohner ist da. Aber sonst fehlt es so ziemlich an allem

Im ganzen Land schwärmen Minister derzeit angeregt von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu sogenannten Bürgerdialogen aus, um mit dem Volk ins Gespräch zu kommen. Es soll eigentlich um die drängendsten Fragen des Landes gehen. Doch später, im Versammlungsraum des Nachbarorts Kläden, wird klar: Manche Frage wird ausgespart. Von den protestierenden Milchbauern ist keiner geladen. Es geht im moderierten Dialog mit 40 Bürgern aus der Region um fehlende Grundschulen, schnelle Internetverbindungen, Bahnanschlüsse und Jobs. Schmidt ist für nichts von alledem zuständig, sucht dennoch nach Antworten. "Ich versuche zu verstehen und zu helfen", sagt Schmidt.

Doch auch diese Themen, das schwant den Lokalpolitikern hier, könnten bald in den Hintergrund rücken. 1000 Flüchtlinge werde der Kreis Stendal demnächst aufnehmen müssen, sagt Verena Schlüsselburg, Bürgermeisterin von Bismark. Auch in ihrer Gemeinde sollen 50 unterkommen. "Wir haben den Wohnraum", sagt Schlüsselburg. "Leicht wird das trotzdem nicht." Es fehlt an Schulplätzen, Personal für die Integration.

Die Debatte um die Landflucht könnte angesichts von Hunderttausenden Flüchtlingen eine neue Richtung bekommen, weiß Schmidt. Der Bedarf an Wohnraum wächst. "Wir müssen den Flüchtlingsstrom richtig steuern", sagt der Minister. Ein Teil der Flüchtlinge werde im ländlichen Raum unterkommen müssen. Es gehe um ein sensibles Thema, das man vorsichtig anpacken müsse. Aber eines, das für die eine oder andere Region durchaus positive Effekte haben könne.

© SZ vom 18.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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