Nach dem Wahlsieg von Joe Biden bei der US-Präsidentenwahl haben die russischen Finanzmärkte völlig anders reagiert als erwartet. Der russische Aktienleitindex RTS brach nicht etwa ein, sondern machte einen kräftigen Fünf-Prozent-Sprung nach oben auf 1236,30 Zähler. Der Rubel, der zuvor auf ein Sechs-Jahres-Tief gegenüber dem Euro gefallen war, erholte sich um 2,5 Prozent und notierte nur noch knapp über der Marke von 90 Rubel pro Euro. Und das, obwohl es unter den Investoren vorher geheißen hatte: "Wenn Biden siegt, dann ist es besser, aus Russland auszusteigen." Sie hatten das unter anderem damit begründet, dass Biden, anders als der noch amtierende Präsident Donald Trump, Russland als die stärkste Bedrohung der USA betrachten könnte.
Was war also passiert, dass die russische Börse den Biden-Sieg plötzlich feierte? "Es ging gar nicht so sehr um Russland selbst", sagt Wjatscheslaw Smoljaninow, Chef-Stratege beim Finanzmakler BCS Global Markets: "Sondern um die Emerging Markets als Ganzes, zu denen Russland gehört." Denn für die Schwellenmärkte verbinde sich mit Biden die Hoffnung, dass die aggressiv protektionistische US-Handelspolitik nun ein Ende finde. "Die Zahl der Investoren, die an der russischen Börse ein Mandat für die Emerging Markets insgesamt haben", erläutert Smoljaninow, "übersteigt die Zahl der allein auf Russland spezialisierten Anleger um das Zehnfache."
Und so hätten eben auch russische Aktien von dem Signal profitiert, das von Bidens Sieg ausgegangen sei. Denn bei der Gewichtung ihrer Schwellenländer-Fonds orientierten sich die Investoren am MSCI Emerging Market Index, in dem chinesische Titel etwa zu 41 Prozent vertreten seien und russische Werte zu 2,9 Prozent: "Wer chinesische Aktien kauft, muss dann auch einige russische Anteilsscheine ordern, damit die Relation gleich bleibt", erklärt Smoljaninow.
Für viele Beobachter war die positive Reaktion der russischen Finanzmärkte zudem ein Beleg dafür, dass die Angst vor Biden in Russland ohnehin irrational ist: "Anleger sind Pragmatiker", sagt Smoljaninow, "sie orientieren sich viel mehr an den fundamental wirtschaftlichen Marktfaktoren als an politischen Gesichtspunkten." Ob Biden den von Trump propagierten Widerstand gegen die Gaspipeline Nord Stream 2 aufgibt, ist für Kolesnikow aber noch nicht ausgemacht: "Biden ist als erklärter Umweltschützer kein so großer Fan des unökologischen US-amerikanischen Frackings wie Trump, das könnte ihn in Bezug auf Nord Stream 2 etwas milder stimmen", sagt er. "Allerdings ist es auch für Biden schwer, sich gegen die wirtschaftlichen Interessen der Firmen zu stemmen, die in der Fracking-Lieferkette mitverdienen."