Pilz am Bau: Was für Hausbesitzer nach Problemfall klingt, ist für einige Pioniere die Zukunft. Wissenschaftler verschiedener Fachbereiche denken bei Pilz nicht an Schimmel, sondern an Myzelium. Dieses schnell wachsende, feine Geflecht aus fadenförmigen Zellen ist das Wurzelwerk von Pilzen. Je nach Verarbeitungsmethode lässt sich aus dem nachwachsenden Rohstoff sowohl Dämm- als auch Baumaterial herstellen, von statisch tragenden Elementen bis hin zu Möbeln. "In naher Zukunft können wir Eigenheime komplett aus Pilz bauen", sagt Dirk E. Hebel, Leiter des Fachgebiets Nachhaltiges Bauen am Karlsruher Institut für Technologie. "Diese Alternative wird Beton nicht komplett ersetzen, kann seinen Einsatz aber deutlich reduzieren."
''In einer Zukunft, in der Klimawandel, ein steigender Meeresspiegel und somit Migration unser tägliches Leben prägen werden, könnten Häuser aus Pilzen eine utopische Antwort auf diese Herausforderungen sein.''
Weniger Beton am Bau wäre ein großer Fortschritt: Allein die Herstellung seines Bindemittels Zement verursacht zwischen fünf und acht Prozent der weltweiten CO₂-Emissionen. Zudem droht Sand, ein wichtiger Zuschlagstoff für Beton, in manchen Regionen bald auszugehen. Der Einsatz von Stahlbeton macht viele Länder von Importen abhängig. Wie wichtig daher andere Möglichkeiten sind, hat der Architekt Hebel unmittelbar während eines dreijährigen Aufenthalts in Addis Abeba erfahren: "Stahl war dort Mangelware und damit der Betonbau oft keine Lösung." Als lokale Alternative habe man dort Bambus verwendet, der wie Stahl sehr zugfest ist. Mit Myzelium könnte man als biologischen Zementersatz den druckfesten Beton ersetzen, zumal er weltweit prächtig ohne Konkurrenz zur Nahrungsmittelindustrie wächst. Auf seiner nächsten Station in Singapur entwickelte er am Future Cities Laboratory, einer Forschungseinrichtung der ETH Zürich und der Regierung des Stadtstaates, daraus ganze Bauteile.
In die Pilze geht Hebel bis heute und kommt dabei Schritt für Schritt weiter. So erforscht das interdisziplinäre KIT-Team aus Architekten, Bau- und Bioingenieuren, Material- und Energiewissenschaftlern den Einsatz regenerativer Materialien in der Architektur. Ihr Baustoff ernährt sich von Zuckern und Cellulose, dem Hauptbestandteil pflanzlicher Zellwände. Um Module aus Myzelium herzustellen, verwenden die Forscher aus Karlsruhe beispielsweise den Pilz Ganoderma lucidum, hierzulande als Glänzender Lackporling bekannt, und mischen seine Sporen mit Holzspänen oder anderen pflanzlichen Abfällen. In wenigen Tagen wächst eine dichte, schwammähnliche Substanz aus miteinander verflochtenen Zellfäden. Diese Masse lässt sich in fast jede Form füllen, wo sie sich über einige Tage weiter verdichtet. Abschließend wird sie getrocknet, um das Wachstum zu stoppen und den Organismus abzutöten. Das Ergebnis: leichte Bausteine, die man wachsen lassen kann. Unter dem Titel "Beyond Mining - Urban Growth" präsentierten die Forscher gemeinsam mit der Block Research Group der ETH Zürich 2017 bei der Seoul Biennale of Architecture and Urbanism ihren "MycoTree": eine Struktur aus Pilzmyzelium und Bambus. "Deren Geometrie wurde mit Methoden grafischer Statik optimiert, um lediglich Druckkräfte in das Material einzuleiten", erläutert Hebel. Die Belastbarkeit des myzeliumgebundenen Baustoffs ist noch geringer als bei metallischen oder mineralischen Materialien. "Durch gezielte Gestaltung der geometrischen Form und des Kräfteflusses ließ sich dieser Nachteil beim MycoTree jedoch ausgleichen."
Drei Jahre nach dem "MycoTree" beginnt das KIT-Team nach der Grundlagenforschung die zweite Phase der Untersuchung: Die Materialien sollen mit neuen Technologien verarbeitet, neue Labore hierfür in Karlsruhe bald eröffnet werden. "Langfristig", so Hebel, "könnten myzeliumgebundene Baustoffe auch in Verbindung mit digitalen Produktionsmethoden eine Alternative zu gängigen Baumaterialien darstellen." Pilz macht nicht nur Beton, sondern auch Plastik Konkurrenz, etwa bei der Schalldämmung. Um die Akustik in Räumen zu verbessern, kommen heute meist Polyesterschäume oder Verbundstoffe auf Mineralfaserbasis zum Einsatz. Diese Substanzen machen das Raumklima definitiv nicht besser und schädigen als Plastikmüll irgendwann das ökologische Gleichgewicht. Deshalb forscht Julia Krayer vom Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik im Projekt "FungiFacturing" an biobasierten Alternativen: Schallabsorbern, die ebenfalls auf Basis von Pilzmyzel hergestellt werden und sich aus pflanzlichen Reststoffen nähren: "Das entwickelte pilzbasierte Material weist gute Dämmwerte auf, die einem herkömmlichen Schallabsorber gleichkommen", erklärt die Biodesignerin.
Ziel des Projekts ist es, einen Schallabsorber mittels generativer Fertigung herzustellen. Dazu testeten die Forschenden verschiedene Pilzarten, untersuchten die bestmögliche Substrat-Zusammensetzung, insbesondere auch den Einsatz verschiedener Additive für die generative Fertigung. Auch hier spielt der 3-D-Druck eine tragende Rolle: "Er ermöglicht eine individuelle Gestaltung des Absorbers, die zielgenau an die Bedürfnisse der Raumgestaltung angepasst werden kann", so Krayer. Zusätzlich könne dadurch für den Schallabsorber das Double-Porosity-Verfahren eingesetzt werden, das die akustische Wirksamkeit verbessere. "Um den Energie- und Ressourcenaufwand zur Substratherstellung im Vergleich zur konventionellen Pilzproduktion weiter zu senken, arbeiten wir an einem Herstellungsprozess, bei dem wir auf die Sterilisierung mit hohen Temperaturen weitestgehend verzichten."
Kunstobjekte aus Pilzen sollen in der Öffentlichkeit mehr Interesse wecken
Einen großen Bogen von solchen technischen Details bis hin zu umfassenden ökonomisch-ökologischen Zusammenhängen schlägt Vera Meyer. Die Biotechnologin leitet das Fachgebiet Angewandte und Molekulare Mikrobiologie an der TU Berlin und befasst sich zudem auch als Künstlerin mit dem Material Pilz. Seit mehr als 20 Jahren erforscht sie mit ihrem Team Schimmelpilze als Produzenten von Proteinen, Enzymen, Medikamenten, Plattformchemikalien und Biokraftstoffen. "Vor etwa fünf Jahren begann ich, mich darüber hinaus für Ständerpilze zu interessieren", berichtet Meyer. "Sie sind die einzigen Mikroorganismen, die pflanzliche Lignocellulose vollständig biologisch abbauen können." Der Clou dabei: Wenn Ständerpilze auf lignocellulosehaltigen pflanzlichen Reststoffen kontrolliert kultiviert werden, entstehen dabei sehr stabile, aber auch sehr leichte Verbundstoffe. "Aus diesen könnte man wiederum Möbel, Kleidung oder Baustoffe produzieren", sagt die Forscherin. Beim New Yorker Start-up Ecovative Design zum Beispiel kann man schon heute Lampen, Tische oder Sessel aus Pilzen online kaufen. "Der logische Schritt zum Hausbau mit Pilzen liegt für mich auf der Hand", so Meyer. "In einer Zukunft, in der Klimawandel, ein steigender Meeresspiegel und somit Migration unser tägliches Leben prägen werden, könnten Häuser aus Pilzen eine utopische Antwort auf diese Herausforderungen sein."
Die Berliner Biotechnologie-Professorin möchte unter anderem mit Kunstobjekten aus Pilzen in der Öffentlichkeit mehr Interesse für deren enormes Potenzial wecken. So hat sie etwa aus dem toten Stamm eines Birnbaums, der von Pilzen besiedelt und zersetzt war, eine Skulptur geformt. Zum Wissenschaftsjahr 2020 "Bioökonomie" des Bundesministeriums für Bildung und Forschung hat Meyer wiederum als Erstautorin am Weißbuch "Growing a circular economy with fungal biotechnology" mitgewirkt. Darin werden die neuesten Entwicklungen der Pilzbiotechnologie vorgestellt und Wege zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise mit diesen Mikroorganismen aufgezeigt, unter anderem mit klimaneutralen Produkten.
Dem ökologischen Happy End für Häuser und Möbel aus Myzel steht übrigens auch in anderer Hinsicht nichts im Wege: Was auch immer man aus Pilzen herstellt, lässt sich kompostieren, wenn man es nicht mehr benötigt.