Report zu Bot-Traffic:Wie Maschinen das Web ausnutzen

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Die Infrastruktur des Webs wird nicht mehr mehrheitlich von Menschen, sondern von angeleiteten, beauftragten Maschinen benutzt. Das Netz kommuniziert zunehmend mit sich selbst - nicht immer mit den besten Absichten.

Von Bernd Graff

Am 12. März 1989, vor etwas mehr als einem Vierteljahrhundert also, stellte Tim Berners-Lee in der Forschungseinrichtung Cern das von ihm entwickelte Hypertext-System für vernetzte Computer vor. Er nannte es damals eine "großräumige Hypermedia-Initiative zur Informationsbeschaffung". So sperrig das vielleicht auch schon damals geklungen haben mochte, seine Entwicklung stellt die Urform eines World Wide Web dar, wie wir es heute kennen. Es ist dann aber nicht ganz unwichtig, nicht von dem Web zu sprechen, das Berners-Lee in die Welt gesetzt hat, sondern von einem Web.

Denn obwohl die grundlegenden Protokolle und Systemsprachen, die netzfähige Rechner miteinander kommunizieren lassen, sich auch 25 Jahre später noch von dieser Hypermedia-Initiative ableiten, befindet sie sich von Anbeginn an im Zustand permanenter Mutation. Wenn man so will, ist das Web nichts anderes als eine sich rasant vollziehende Technik-Evolution im Zeitraffer. Diese Tatsache drückt sich aus in der Veränderung seines Zugangs, seiner Angebote, seiner Nutzung und Nutzbarkeit - aber inzwischen auch in einer Veränderung der Teilnehmer selbst.

"Nicht-menschliche Einheiten"

Im Szenario des Tim Berners-Lee sind die vernetzten Rechner lediglich Mittel zur Kommunikation. Kommuniziert wird in dem Szenario selbstverständlich noch von Menschen. Und so wird es ja auch immer noch gedacht: Man stellt sich Menschen vor Monitoren, Terminals, auch Smartphones-Displays vor, die aktiv durch den Cyberspace surfen. Die technische Infrastruktur, die das ermöglicht, wartet in diesem Bild dumpf und stumpf auf die Eingaben derjenigen, die sie nutzen. Berners-Lee interessierte eben die "Informationsbeschaffung", und die setzte die Such-Aktionen interessierter Menschen voraus.

Dem Erfinder wäre nicht in den Sinn gekommen, dass es nicht einmal 25 Jahre dauerte, bis nicht mehr mehrheitlich Menschen seine Infrastruktur nutzen, sondern angeleitete, beauftragte Maschinen: die Robots. Sie können sehr viel mehr, sehr viel ausdauernder und sehr viel schneller Informationen beschaffen, als Menschen eine Tastatur bedienen. Und so ist es seit dem März 2012: Damals machte der Datenverkehr, den programmierte Gerätschaften verursachen, erstmals die Mehrheit, nämlich 51 Prozent des gesamten Internet-Traffics aus. Das Gerät informiert sich inzwischen selber, heißt das. Aber was genau will es denn überhaupt wissen?

Incapsula, eine auf Internetsicherheit spezialisierte Firma, veröffentlichte im Frühjahr 2012 einen ersten sogenannten "Bot Traffic Report", der auswies, dass "nicht-menschliche Einheiten" häufiger im Netz zugange sind als lebende Personen. Anderthalb Jahre später, im Dezember 2013, ergab ein neuer Report dieser Firma, dass nun sogar schon 61,5 Prozent des Datenaufkommens im Internet von emsigen Roboter-Strukturen stammen sollen. Leider verfolgt nur weniger als ein Drittel dieses Maschinenverkehrs gute Absichten.

Denn lediglich 31 Prozent der Bots, so die neueste Studie, arbeiten im Dienst von Suchmaschinen und anderen Webanalysten: Sie indizieren etwa Web-Angebote für die Suchmaschinen. Fast 70 Prozent der Aktivitäten verfolgen kriminelle Ziele. Der Bot-Report spricht von Hacking-Tools, die Kreditkartendaten klauen, Webseiten hijacken oder mit sie Massenanfragen gleich komplett lahmlegen. Man kennt Scraper, die Webanwendungen und Email-Adressen klauen, um sie in Spam-Mails illegal weiterzuverwenden. Man identifiziert Spammer, die Webseiten mit schädlichem Code infizieren oder massenhaft Bullshit in Kommentarspalten von Webforen posten.

Und dann führt der Report noch eine besonders infame Robot-Aktivität auf: Die Impersonatoren, gemeint sind programmierte Skripte und Code, die mal "Lovebots", "Socialbots" und mal "Chatbots" heißen, weil sie sich in den entsprechenden Foren als Menschen ausgeben, menschliches Verhalten simulieren und wie Menschen wirken. In betrügerischer Absicht, versteht sich. Die New York Times nennt sie "automatisierte Scharlatane". Ein Fünftel des Maschinenverkehrs entfällt bereits auf diese Humanheuchler.

"Die Grundlagen sind simpel"

Alexis C. Madrigal spricht in The Atlantic von einem "Internet of Thingies" ( umgangssprachlich für "Dinge, die man kaum begreifen und beschreiben kann") und stellt nach eigenen Bot-Programmierungen fest, sie seien so einfach und ohne jede Vorkenntnis umzusetzen, dass sie sogar ein Journalist zustande bringt ("jawdroppingly easy"). Lediglich 300 US-Dollar habe er für die Software "UBot Studio" ausgeben müssen, die seinen Computer Dinge zustande bringen ließen, von denen er kaum glauben konnte, dass sein Computer sie zustande bringen konnte.

So flutete er den Kurznachrichtendienst Twitter mit Tausenden von automatisch generierten "Auto-Tweets" und veranlasste 100 000 Besuche auf einer einzelnen Webseite, und zwar so, dass niemand merkte, dass sie von derselben Internetadresse aus erfolgten. Madrigal kommt zu dem Schluss: "Die Grundlagen, Fake-Traffic durchs Web zu jagen, sind simpel."

Am schlimmsten gebeutelt ist die Werbebranche, die ihren Kunden nun erklären muss, dass sie ihre Etats für gezielt eingesetzte Maschinenklicks verplempert haben, also für eine künstlich generierte Aufmerksamkeit. Von einem "World Wide Rip-Off" spricht denn auch das Branchenorgan A dweek, das behauptet: "Die Menge an gefälschtem Online-Traffic wird Ihnen das Hirn wegpusten."

So haben die Bots inzwischen vornehmlich Video-Abrufe im Visier. Hier werden mehr Werbegelder pro Klick abgerufen als bei simpler Bannerwerbung. Drei neue Bot-Netze seien gerade entdeckt worden, die "eine Technologie einsetzen, die nie zuvor gesehen wurde". 30 bis 80 Millionen Video-Abrufe pro Tag gingen auf ihr Konto. Dabei würde jeder Bot einen einzelnen, gehackten Computer so manipulieren, dass er wie 1000 klickende Computer erscheine.

Da sie sogar über "Cookies" Web-Bewegungen der Computer simulierten, die nie stattgefunden haben, laufe die Werbe-Industrie Gefahr, Anzeigen - für gutes Geld - auf mutmaßlich hoch frequentierten Webseiten zu buchen, die ausschließlich von Bots aufgesucht werden. Supergeil! Denn damit wäre die Branche an ihr ultimatives Ende gestoßen: Sie produziert mit viel Aufwand, Kreativität und Geld Kampagnen, die von keiner lebenden Seele mehr wahrgenommen, nur noch automatisch geklickt werden.

Die Firma, die "UBot Studio" herstellt, die "Seth Turin Media, Inc.", wirbt übrigens mit dem Slogan: "Alles, was du online tust, kann mit UBot Studio automatisiert werden", und mit einem markigen Philosophenspruch von Alfred North Whitehead, des Lehrers von Bertrand Russell: "Die Zivilisation kommt nur dadurch voran, dass die Zahl jener Handlungen wächst, die wir vollführen, ohne darüber nachzudenken." "Power to the People!" steht über allem.

Wer sieht die Nutzungsprofile ein?

Dabei sind diese "Leute" nur die Destination einer Kette von technischen Informanten-Bots, die, einmal programmiert, quasi autonom agieren und interagieren, die auslesen, infiltrieren, bombardieren, sammeln, weitergeben, was das Silizium hergibt. Zu Informanten können die von Malware und Viren verseuchten Heim-Computer und die Wohnzimmer-Router argloser Surfer werden. Das können inzwischen aber auch völlig harmlose, unverdächtige Geräte sein, die man früher niemals mit Intelligenz, Vernetzung und Kommunikation zusammengebracht hätte.

Thermostate zum Beispiel, die per Smartphone gesteuert werden, um aus der Ferne die Raumtemperatur zu regeln. Armbänder, die Körperfunktionen registrieren und in der Cloud speichern. Brillen, die Gesichter erkennen. Fotokameras, die ihre Bilder über das Netz zu übertragen. Fernseher, die TV-Gepflogenheiten an die Sender überspielen. Und, der Klassiker!, ein Kühlschrank, der selbständig Nachschub beim Lebensmittellieferanten ordert. Bei all diesen Funktion fallen Daten an. Sie werden gesammelt, ausgewertet, gespeichert. Es entstehen Nutzungsprofile. Wer aber weiß schon wirklich, wer sie wann einsieht - und wozu sie von wem genutzt werden.

Natürlich darf man den Zahlen zum Internetverkehr der Bots getrost misstrauen. Doch geht es bei dem "Internet der Dinge" auch weniger um Verkehrs-Anteile als um die Tatsache, dass es diese allumfassende, unsichtbare Netz-Umwelt aus intelligent gemachten Sensoren und Software jetzt schon gibt. Man mag den Fortschritt der "Augmented Reality", einer digital erweiterten Realität begrüßen. Bei Skeptikern hat sich jedoch bereits ein anderer Begriff eingebürgert: Das Über-Netz.

© SZ vom 10.05.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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