Report:Pistenzwist

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In Braunlage läuft das alte West-Skigebiet einträglich. Im Osten will man nun mitverdienen. Reicht der Gewinn für alle? Ist Wintersport hier noch zeitgemäß? Ein Ost-West-Konflikt.

Von Cornelius Pollmer und Thomas Hahn

Es knirscht unter den Schuhen von Christoph Schrahe, aber es knirscht kein Schnee mehr, nur Schotter. Montag dieser Woche, Schrahe steht in der allerschönsten Frühlingssonne neben dem Parkhaus von Schierke im Harz. Vom Winter ist exakt ein einziges Häuflein graues Weiß geblieben, von Schrahes großem Projekt, Stand jetzt und hier: noch weniger. Christoph Schrahe schaut suchend. "Irgendwann", sagt er, "steckten hier schon mal so rote Hölzer, die die Trasse markiert haben." Schrahe läuft ein wenig herum, aber er findet die Hölzer nicht mehr. Er läuft noch ein Stück, ergebnislos.

Dort, wo jetzt sogar die Hölzer fehlen, sollte nach Wunsch und Willen Schrahes längst eine Seilbahn von Schierke hinauf auf den Winterberg führen. Schrahe ist Berater des Investors Gerhard Bürger, der seit vier Jahren versucht, diese Bahn zu realisieren. Die Idee dazu geistert noch länger durch Schierke und durch die Stadt Wernigerode, zu der die Gemeinde gehört. Das Wintersportprojekt startete als Idee einmal mit vergleichsweise gigantischen Maßen. Die Zahl der Hektar, die dafür verbraucht werden sollten, war dreistellig. Doch es gab Bedenken und Widerstand und keine verlässliche Politik auch seitens des Landes. Jetzt plant Bürger noch mit 12,2 Hektar Piste. Er will 20 Millionen Euro investieren, 30 Prozent davon würde das Land Sachsen-Anhalt übernehmen. Wernigerode möchte weitere zehn Millionen Euro investieren, das Land würde davon sogar 90 Prozent fördern. Mit der Seilbahn, mit Gastronomie und Sommerprogramm würden die "Bergwelten Schierke" jedes Jahr 4,8 Millionen Euro zusätzlicher Wertschöpfung in der Region generieren, stellt Schrahe in seiner Wirtschaftlichkeitsrechnung in Aussicht. Gerechnet auf ein Bruttogehalt von 25 000 Euro im Jahr würden 180 Personen neu und vollzeitäquivalent in Arbeit kommen. Dazu noch Steuereinnahmen, Kurtaxe und zusätzlicher Umsatz in dem Parkhaus, an dem die Talstation gebaut werden soll. Wer könnte dagegen etwas haben?

"Wenn alles klappt", sagt Christoph Schrahe also neben dem Parkhaus, "dann könnten wir im Dezember des nächsten Jahres hier mit dem Betrieb beginnen." Aber Schrahe relativiert sich gleich wieder selbst: So ähnlich habe er auch schon vor zwei Jahren gehofft und eigentlich komme hier, in Schierke, immer etwas dazwischen. Denn in der Region sei nicht nur die Unterstützung groß für das Projekt - es gebe zugleich auch "viel, viel Gegenwind".

Dieser Gegenwind speist sich aus ganz unterschiedlichen Quellen. Es gibt Anwohner, die sich um die Moorwälder im Harz sorgen. Diese seien, einmal für den Trassenbau geopfert, unwiederbringlich verloren. Es gibt Menschen, die in Zeiten des Klimawandels grundsätzlich obszön finden, alpine Abfahrtsläufe in Mittelgebirgslagen anzustreben, noch dazu mit staatlichem Geld. Und auch jenseits des Kamms, am Wurmberg in Niedersachsen, suchen und finden sie Argumente gegen die Planungen von Bürger und seinen Verbündeten.

Der Wurmberg wäre wohl weniger umstritten, wenn er wie sein viel besungener Nachbar, der Brocken, als ein Olymp für Hexen und Gespenster in die Sagenbücher des Harzes eingegangen wäre. Der Wurmberg steht heute aber für den Konflikt zwischen Menschenwirtschaft und Natur, für widersprüchliche Begehrlichkeiten und irgendwie auch für die späten Ausläufer deutsch-deutscher Ressentiments.

Er war lange ein Berg des sogenannten Westens: mit 971 Metern die größte Erhebung Niedersachsens, eine Pilgerstätte für die skifahrende Flachlandgesellschaft und Existenzfaktor für die Stadt Braunlage. Zwischen Schierke und den Pisten lag lange die Grenze des geteilten Deutschlands. Mittlerweile ist das alte West-Skigebiet erweitert. Schneekanonen verteidigen es gegen den Klimawandel. Braunlage brummt. Und in Schierke fragen sie sich: Warum soll es bei uns nicht auch brummen?

Aber so einfach ist es nicht. In Braunlage ist man teilweise gar nicht begeistert. Wobei Bürgermeister Stefan Grote (SPD) nicht den Eindruck erwecken will, als habe das etwas mit irgendwelchen verschleppten Ossi-Wessi-Konflikten zu tun. Stefan Grote, Jahrgang 58, ein freundlicher Mann von geringer Lautstärke, sagt von sich, dass er "Harzer" sei, ein Sohn der Gegend also, der immer das gesamte Mittelgebirge als seine Heimat betrachtete.

Die ersten Streitereien um den Wurmberg erlebte Grote in den Neunzigern als Braunlager Ratsmitglied: Die Schierker wollten ihre eigene Seilbahn zur Wurmberg-Kuppe, so erzählt Grote das. Aber da war ja schon die Braunlager Seilbahnstation, die Wurmbergalm, die Nordabfahrt, die Skisprungschanze. "Das hätte man gar nicht unterbringen können." Es wurde nichts aus den ersten Ideen einer deutsch-deutschen Skischaukel, und im Ostharz war man sauer. "Da hieß es immer, ihr wollt uns nicht, ihr wollt uns nicht." Grote findet das immer noch falsch. "Man wollte nicht hören, dass es knallharte Argumente dagegen gibt."

Und jetzt? Grote ist für das Vorhaben aus Schierke. Das könnte damit zu tun haben, dass er nicht als fortschrittsverdrossen und nachbarschaftsfeindlich gelten will wie viele Harzer vor ihm. Vielleicht erklärt es sich aber auch aus der Geschichte seiner 13 Amtsjahre. Grotes erste Zeit im Rathaus war geprägt von Krisen, Stürmen und lauen Wintern. Die Stadt hatte damals ohnehin schon Mühe, Schritt zu halten mit den sanierten Fremdenverkehrsorten aus den Aufbau-Ost-Gebieten. Drüben war alles neu, im Westharz alles beim Alten, und als wegen des Wetters auch noch die Skifahrer wegblieben, machten reihenweise die Geschäfte zu. Marcus Gross, Sohn und Erbe des alten Wurmbergseilbahn-Erbauers Carry Gross, erwog damals ernsthaft, die Bahn abzubauen. Dann wurde das Wetter wieder besser, Gross besann sich, Fördergeld von Landesregierung und EU flossen, die Stadt half mit, und gegen den entschiedenen Protest von Umweltschützern wurde 2012 im Wurmbergwald Platz geschaffen für das Harz-Skivergnügen der Zukunft. Neuer Vierersessellift, neuer Parkplatz, neue Pisten - und vor allem eine ergiebige Beschneiungsanlage nebst Speichersee.

Zwölf Millionen Euro kostete das damals. Aber seither ist Braunlage wieder interessant für Investoren. Die eigene Kunstschneeproduktion rettet Winter um Winter. Und Grote sagt trocken: "Ohne die Investition von damals wären wir verloren." Er weiß also, was so ein neues Skigebiet bringen kann. Außerdem erhofft er sich von den Schierker Pisten Entlastung. Denn der Erfolg wird fast schon zu groß. Der künstlich beschneite Wurmberg ist eine einsame Attraktion, an manchen Wintertagen überrennen ihn die Skifahrer regelrecht, verursachen Staus, bilden Schlangen an den Liften, überfordern die kleine Stadt. "Die Gastronomie kann die Menschen kaum noch versorgen", sagt Grote, "wir könnten schon deshalb ein Skigebiet in Schierke gebrauchen, damit mehr Fläche für die Skiläufer zur Verfügung steht." Grote ist eben Politiker.

Der Kaufmann und Seilbahnbesitzer Gross denkt ganz anders. Es ist ein kalter Montag Ende März. Steifer Wind weht letzten Schnee über die Wurmbergkuppe. Die Öffnungen der abgeschalteten Schneekanonen wirken wie stumme Schreie in der Landschaft. Am Sessellift klappt ein Mitarbeiter die Sitze hoch. Betriebsschluss nach einem Tag kurz vor der Revision, an dem Dirk Nüsse, Leiter der Wurmbergseilbahn, kein großes Geld mehr macht. "Es kommen kaum Leute, aber die, die kommen freuen sich, wenn sie noch Wintersport treiben können", sagt er.

Die Saison war durchwachsen. Die Kälte, eine unabdingbare Zutat der Kunstschneeherstellung, kam erst spät im Dezember, und als der Februar vorbei war, verdarb ein langandauernder Sturm das März-Geschäft. Ja, der Winter im Harz ist wechselhaft geworden, das braucht Nüsse keiner zu sagen, aber dank des robusten Kunstschnees gibt es eben auch noch einträgliche wie jenen 2017/18 zum Beispiel. 106 Skitage, Spitzenergebnis. Es sieht insgesamt so aus, als habe sich die teure Erweiterung des Gebiets für den Investor gelohnt.

Aber ein Selbstläufer ist es nicht. Nüsse erzählt vom komplizierten Saisongeschäft zwischen ohnmächtiger Wetterbeobachtung und Vollbeschäftigung. Die Pisten, die Lifte, die Maschinen - alles erfordert fachmännische Pflege. Bis zu 65 eigens angeleitete Leute braucht es, damit der Wintersport am Wurmberg funktioniert. Der Aufwand ist enorm für die begrenzte Zeit, in der die Kasse wirklich klingelt. Und gerade weil Nüsse das weiß, finden er und sein Chef Gross das Projekt in Schierke widersinnig. Die Wurmbergseilbahn hätte den Betrieb der Schierker Pisten übernehmen dürfen, die an den Wurmbergliften münden sollen. Gross rechnete und lehnte ab.

Das Vorhaben an einer flachen Abfahrt am Kleinen Winterberg sieht er sehr skeptisch. "Für die Wurmbergseilbahn ist es ein Projekt, das sich so alleine nicht rechnen wird", sagt Nüsse, schon deshalb sei es "nicht von einem vordergründigen Interesse für die Wurmbergseilbahn". Vielleicht später mal. Viel später. "Der Investor sollte erst mal für sich selbst feststellen, ob sein Projekt Früchte trägt", sagt Nüsse, "das wird man sicher über einen mehrjährigen Zeitraum beobachten müssen."

Die Lage ist verfahren, und noch jemand ist entschieden gegen das Projekt. Friedhart Knolle, Sprecher der Naturschutzorganisation BUND, war schon 2012 die Stimme des Widerstands gegen die Skigebietserweiterung. Damals musste er sich fügen, weil das betroffene Areal den relativ geringen Titel eines niedersächsischen Naturschutzgebietes trug. Mit Ausgleichsflächen zur Renaturierung kauften sich die Seilbahnbetreiber damals das Recht, 16 Hektar Wald zu roden. Aber nach den aktuellen Plänen für die Schierker Pisten, sollen Bäume in einem Gebiet fallen, das nach der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der EU unter strengstem Schutz steht. "Wenn das durchgeht", sagt Knolle, "wäre das ein skandalöser Präzedenzfall."

Dirk Nüsse leitet die Wurmberg-Seilbahngesellschaft im Harz. (Foto: Swen Pförtner/dpa)

Worauf die Gegner des Projektes in Schierke besser nicht spekulieren sollten, ist, dass Gerhard Bürger die Lust verliert. Bürger ist 80 Jahre alt, aber er hat längst Strukturen geschaffen, die das Investment unabhängig von seiner Person am Leben hielten. Und der Betrag, sagt sein Berater Christoph Schrahe, den Bürger bereits in Planungen und Gutachten investiert hat, "ist einfach deutlich höher als der Betrag, den es jetzt noch braucht, um an den Punkt zu kommen, an dem man entweder bauen kann oder es endgültig aus ist".

Wie adressieren Bürger und seine Leute ihre Gegner? Die Kritik vom Wurmberg könne er schon verstehen, sagt Christoph Schrahe mit einem leisen Lächeln, das bereits andeutet: Da kommt noch was. Entstünde am Winterberg eine topmoderne Infrastruktur, sagt Schrahe, "dann könnte das dazu führen, dass die wahrgenommene Qualität am Wurmberg aus Sicht der Gäste noch ein wenig zurückgeht und dass man dort also Investitionen tätigen muss, die man gerne noch ein wenig aufgeschoben hätte". Auf die Kritik der Umweltschützer wiederum hat Bürger mit Umplanungen reagiert und etwa die geplante Mittelstation noch einmal verlegt. Andere hat er schlicht eingekauft wie den ehemaligen Landeschef des BUND in Sachsen-Anhalt.

Bleibt noch die Frage, wie die Stimmung bei den Anwohnern des Winterbergs ist. Auch bei denen legen sich Bürgers Leute ins Zeug, etwa, um die große Skepsis zu klären: Selbst wenn es noch gute Winter geben wird im Harz, was machen wir mit der Bahn eigentlich im Sommer?

Ein Abend in der Geschäftsstelle der IHK in Wernigerode. Die Betrauten der "Bergwelten Schierke" haben zu einer "Informationsveranstaltung" geladen, die natürlich vor allem eine Werbeveranstaltung für das Projekt ist. Zunächst spricht der Oberbürgermeister von Wernigerode, Peter Gaffert. Gaffert sagt, "in kaum einem zweiten Ort" sei der Mauerfall so herbeigesehnt worden wie hier in Schierke. 20 Jahre lang sei dann nicht wirklich etwas passiert, man habe nur einmal durch den Ort fahren müssen, "um zu sehen, wie verkommen und am Sterben" alles dort war. Die Politik in Wernigerode stehe zu dem Projekt von Bürger - auch, weil es doch nicht sein könne, dass zwar zwei Drittel des Harzes im Osten liegen, dieser aber nur ein Drittel des touristischen Geschäfts damit mache. Es gehe mitnichten darum, drei Monate im Jahr am Winterberg Ski zu fahren - es gehe um die grundsätzliche touristische Entwicklung der Gegend.

Auf Gaffert folgt eine Präsentation mit vielen Schaubildern zur möglichen Sommernutzung, Visionen in digitaler Tusche. Meditieren im Wald, Naturklettern, Erlebnispfade - es sind arg grell blühende Landschaften, die hier im tristen Raum der IHK skizziert werden. Von Naturschutz und Bildungsarbeit ist auf einmal viel die Rede, die Wörter Ski und Schnee kommen kaum vor. Eine Irreführung, nur um weitere Proteste und eventuelle Klagen zu vermeiden?

Christoph Schrahe, der Berater von Bürger, ist da vergleichsweise klar, er sieht die Argumente auf seiner Seite. Ja, sagt er, man sei jetzt "ein bisschen dazu gedrängt", das Thema Natur und Umwelt "überzubetonen", weil sich die Diskussion zu lange Zeit nur auf die Piste und dafür nötige Eingriffe fokussiert habe. Wenn aber nun Leute sagten, gegen die Seilbahn hätten sie ja nichts, nur eine Piste lehnten sie ab, dann müsse er darauf erwidern: Die Piste ist der Kern der Wirtschaftlichkeit des gesamten Projektes. "Ohne Piste: keine Seilbahn."

Nachhaltigkeit, sagt Schrahe, habe viele Dimensionen: eine ökologische, aber auch eine ökonomische und eine soziale. Dass Piste und Bahn ökologische Folgen hätten, bestreitet er gar nicht. Die Frage sei aber auch, welche Entwicklungsmöglichkeiten Schierke neben dem Tourismus noch blieben. Der Ort muss sich jetzt also entscheiden: Will er versuchen zu brummen wie Braunlage? Und um welchen Preis?

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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