Rente:Wenn das Geld zum Leben nicht reicht

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Die Altersarmut wird zwar deutlich zulegen, aber nicht so stark ansteigen, wie die Szenarien mancher Schwarzmaler glauben machen wollen.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Für Verdi-Chef Frank Bsirske ist die Lage ernst: "Was auf Millionen zukommt, ist Altersarmut", sagt der Gewerkschaftsvorsitzende. Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) warnt: "Da ungefähr jeder dritte Beschäftigte weniger als 2500 Euro verdient, droht in Zukunft Millionen eine Rente auf oder unter Hartz-IV-Niveau." Und CSU-Chef Horst Seehofer glaubt: Durch die beschlossene Senkung des Rentenniveaus werde "etwa die Hälfte der Bevölkerung in der Sozialhilfe landen".

Aber stimmt das überhaupt? Wird es wirklich so schlimm? Die Bertelsmann-Stiftung ließ das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) nachrechnen. Das Ergebnis: Das Risiko, im Alter arm zu sein, wird in den nächsten 20 Jahren deutlich steigen, vor allem für alleinstehende Frauen, Menschen ohne Berufsausbildung und Langzeitarbeitslose. Außerdem heißt es in ihrer neuen Studie: "Für Personen in Ostdeutschland steigt das Armutsrisiko stark an." Die Untersuchung des DIW und ZEW legt aber auch den Schluss nahe, dass die Gewerkschaften und Seehofer mit völlig übertriebenen Zahlen Alarm geschlagen haben. Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Thema Altersarmut:

Gibt es hierzulande bereits Altersarmut?

Im Dezember 2016 erhielten etwa 526 000 Menschen in Deutschland die Grundsicherung im Alter, sozusagen das Hartz IV für Senioren. Ihr Alterseinkommen ist so gering, dass sie auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Die Zahl dieser Grundsicherungsempfänger hat sich seit 2003 verdoppelt. Die Altersarmut steigt also bereits. Armut in der Altersgruppe 65 plus ist jedoch deutlich weniger verbreitet als in der Gesamtbevölkerung: 2015 waren mehr als acht Prozent aller Bürger auf die staatliche Grundsicherung angewiesen, bei den 65-Jährigen und älteren waren es gut drei Prozent. Die Grundsicherung belief sich laut Statistischem Bundesamt Ende 2016 auf durchschnittlich 786 Euro monatlich.

Warum wird die Altersarmut zulegen?

Ein entscheidender Grund ist das Rentenniveau: Das soll langfristig sinken, um die Rentenbeiträge für die Jüngeren einigermaßen stabil zu halten. Schließlich müssen künftig immer weniger junge Menschen immer mehr Alte finanzieren. Mitte der Achtzigerjahre lag das Niveau des gesetzlichen Altersgelds nach Abzug des Krankenkassenbeitrags und vor Abzug von Steuern noch bei mehr als 57 Prozent eines Durchschnittsverdienstes. Derzeit liegt es bei 48 Prozent. Bis 2030 dürfte es auf etwa 44 Prozent fallen, wenn die Politik nicht eingreift. Die gesetzlich definierte Untergrenze liegt bei 43 Prozent. Bei der Berechnung des Rentenniveaus wird von einem Standardrentner ausgegangen, der 45 Jahre lang stets zum jeweiligen Durchschnittslohn gearbeitet hat. Das waren 2016 im Westen monatlich 3022 Euro. Durch die Senkung des Rentenniveaus werden die Löhne langfristig stärker steigen als die Altersbezüge. Das bedeutet aber nicht, dass die Rente sinkt.

Wie viele brauchen künftig im Alter staatliche Hilfe?

Die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, gehen von 2022 an in Rente. Die Autoren der Bertelsmann-Studie prognostizieren, dass bis zum Jahr 2036 sieben Prozent dieser Neurentner auf die staatliche Grundsicherung angewiesen sein werden. Das ist ein Anstieg von mehr als 25 Prozent im Vergleich zum heutigen Wert.

In welchem Umfang nimmt das Risiko der Altersarmut zu?

20 Prozent der Neurentner werden in etwa 20 Jahren davon bedroht sein. 2015 galten noch 16 Prozent der mindestens 65-Jährigen als armutsgefährdet. In diese Gruppe fallen nach der in der EU gängigen Definition Haushalte, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. 2015 lag diese Schwelle für einen alleinstehenden Rentner bei netto 958 Euro. Wer darunter fällt, gilt nicht automatisch als arm, sondern als von Armut bedroht.

Sind Frauen besonders gefährdet?

Altersarmut wird in Zukunft vor allem Frauen treffen. Mehr als jede vierte alleinstehende Neurentnerin wird der Untersuchung zufolge die staatliche Grundsicherung nötig haben. Unter diesen Frauen wird sich der Anteil der Hilfsempfänger von 16 auf 28 Prozent im Jahr 2036 erhöhen. "Damit ist das Risiko zur Altersarmut bei alleinstehenden Frauen rund viermal so hoch wie im Durchschnitt", heißt es bei der Bertelsmann-Stiftung.

Welche Bevölkerungsgruppen müssen sich noch Sorgen machen?

Die Simulationsrechnungen des DIW und ZEW zeigen, dass mehr als jeder zehnte Ostdeutsche zwischen 2031 und 2036 Anspruch auf die Grundsicherung im Alter haben wird. Das Risiko, sich die staatliche Hilfe holen zu müssen, wird sich damit verdoppeln. Das hat vor allem zwei Gründe: Im Osten wurde meist weniger verdient als im Westen, viele Ostdeutsche bekamen nur einen Job als Geringverdiener. Außerdem waren viele nach der Wende vorübergehend oder länger arbeitslos. Folglich zahlten sie weniger in die Rentenkasse ein und erwarben auch weniger Rentenansprüche. Deutlich höher wird nach den Berechnungen der Forscher auch das Risiko der Altersarmut bei Langzeitarbeitslosen, Niedrigqualifizierten und Migranten sein.

Was ist von anderen Warnungen vor Altersarmut zu halten?

In ihrer eigenen Analyse stellt die Bertelsmann-Stiftung fest: "Die Vernachlässigung von Einkommensquellen führt zu einer systematischen Überschätzung von Altersarmut." Als Beispiel wird eine vom Rundfunksender WDR im April 2016 verbreitete Meldung genannt. Darin hatte es geheißen, dass fast jedem zweiten Rentner von 2030 an die Altersarmut drohe. Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) hatte diese Aussage damals als "nicht nachvollziehbar" bezeichnet und dem WDR vorgehalten, andere Einkommensquellen außerhalb der gesetzlichen Rente nicht zu berücksichtigen. Außerdem komme es auf den "Haushaltskontext" an, also ob ein Rentner allein lebe oder mit jemandem zusammen. "Die Höhe der gesetzlichen Rente allein kann also keine Auskunft über die Einkommenslage von Rentnerhaushalten geben", kommentierte die DRV.

Auf welche Rechnungen berufen sich die Gewerkschaften?

Verdi-Chef Bsirske hatte behauptet, die Hälfte der Arbeitnehmer müsse sich von 2030 an mit Renten um 800 Euro und weniger begnügen. Er begründete dies damit, dass jeder zweite Arbeitnehmer höchstens 2500 Euro brutto im Monat verdiene. Grundlage dieser Berechnungen ist eine Studie des Pestel-Instituts, das mit einem Rentenniveau von 43 Prozent rechnet. Demnach würde für einen Arbeitnehmer mit 2500 Euro brutto und 40 Beitragsjahren die ausgezahlte Rente von derzeit etwa 900 Euro auf 800 Euro im Jahr 2030 sinken. Auch der DGB rechnet vor: Eine Köchin mit einem Monatslohn von 2250 Euro werde durch den "Sinkflug des Rentenniveaus" beim Eintritt in den Ruhestand 2030 weniger Rente haben als 2017.

Was ist davon zu halten?

Der Finanzmathematiker und Rentenexperte Werner Siepe wirft Verdi-Chef Bsirske und dem DGB vor, "Horrorzahlen" zu verbreiten, die nichts mit der Realität zu tun haben. Er weist in einer für die Berliner Versicherungsberater-Gesellschaft Vers erstellten Analyse darauf hin, dass diese Rechnungen weder betriebliche Zusatzrenten noch die üblichen Rentensteigerungen berücksichtigen. Tatsächlich dürfen die Renten gar nicht sinken, es gibt eine gesetzliche Rentengarantie. Schlimmstenfalls sind Nullrunden möglich wie von 2004 bis 2006. Dauer-Nullrunden über ein Jahrzehnt lang bis 2030 seien aber "absolut unwahrscheinlich", schreibt Siepe.

Womit rechnet die Bundesregierung?

Diese rechnet sogar damit, dass die Bezüge für die 20,8 Millionen Rentner bis 2030 um durchschnittlich gut zwei Prozent pro Jahr zulegen werden. Demnach würde sich das Altersgeld für den Standardrentner mit 45 Beitragsjahren, von derzeit 1370 Euro auf 1844 Euro brutto erhöhen.

Hilft ein höheres Rentenniveau gegen eine Verbreitung der Altersarmut?

Die Gewerkschaften wollen das Rentenniveau auf wieder mehr als 50 Prozent erhöhen. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat vorgeschlagen, das Rentenniveau auf langfristig 46 Prozent zu stabilisieren. Die Autoren vom DIW und ZEW halten in ihrer Studie davon aber wenig, da den Risikogruppen wie Langzeitarbeitslosen damit wenig geholfen wäre. "Die Stabilisierung des Rentenniveaus bei 46 Prozent zielt nicht direkt auf Haushalte an der Armuts- und Grundsicherungsschwelle ab, daher fallen die Wirkungen erwartungsgemäß klein aus", heißt es in ihrer Untersuchung. Skeptisch äußert sich auch die Bertelsmann-Stiftung: "Die meisten der aktuell diskutierten Vorschläge zur Weiterentwicklung des deutschen Rentenrechts versprechen somit nur wenig Aussicht darauf, dass sich am Trend einer steigenden Altersarmut in den kommenden Jahren grundlegend etwas ändern wird."

© SZ vom 27.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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