Raus aus der Trutzburg, rein in die City:Stadtteil Daimler

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So wird der neue Bürostandort von Daimler einmal aussehen. Gearbeitet wird in den oberen Etagen der Gebäude, ins Erdgeschoss sollen betriebliche, aber auch fremde Dienstleister einziehen; Wäscherei, Metzgerei oder Friseur können dann von allen Bürgern genutzt werden. Auch die Mitte des Geländes ist frei zugänglich - Daimler wird zum Teil der Stadt. (Foto: Daimler, O&O Baukunst / Rendering: Finest Images)

Der Autokonzern baut groß in Stuttgart-Vaihingen. Zur neuen Immobilienstrategie gehört es auch, sich nicht länger von der Außenwelt abzuschotten.

Von Dagmar Deckstein

Es hat inzwischen schon die Qualität einer Binsenweisheit, dass sich die Autokonzerne in diesem 21. Jahrhundert neu erfinden müssen: Alternative Antriebe erfordern hohe Entwicklungsausgaben, das digital gesteuerte, selbstfahrende Auto ebenso. Aber auch neue Geschäftsmodelle vom reinen Autoverkäufer hin zum umfassenden Mobilitätsanbieter wollen entwickelt werden. Das gilt auch für den Stuttgarter Autobauer Daimler, der sich nach dem Motto: "Wer hat's erfunden?" rühmt, vor 130 Jahren durch Gottlieb Daimler das motorgetriebene Automobil erstmals auf der Welt gefahren zu haben.

Diese Neuerfindung der Auto-Mobilität spiegelt sich neuerdings auch wider in einem Neudenken der - nun ja: Immobilität. Also in neuen architektonischen und stadtplanerischen Ansätzen, sich nicht nur den Mitarbeitern, sondern auch einer breiten Öffentlichkeit zugänglich, dienstbar und attraktiv zu zeigen. Solch ein recht spektakuläres Immobilienprojekt hat Daimler im Mai angekündigt.

In Stuttgart-Vaihingen, im Südwesten der Stadt, will Daimler bis 2019 für einen dreistelligen Millionenbetrag ein 41 000 Quadratmeter großes Gelände mit vier sechsgeschossigen, dachbegrünten Bürokomplexen bebaut haben, in denen dann 4000 Daimler-Beschäftigte tätig sein werden. 4000 von insgesamt 15 000 Mitarbeitern, die bisher an verstreuten und auch nicht mehr so recht vorzeigbaren, angemieteten Büros im Großraum Stuttgart und jenseits der Unternehmensstandorte Untertürkheim und Sindelfingen ihre Arbeit verrichten. Sozusagen in aller Stille hat Daimler das Areal gekauft, das einst dem Buchgroßhändler Koch, Neff & Volckmar gehörte und der seinen Lager- und Logistikstandort nach Erfurt verlagert hat. Und sich dann, auch hinter den Kulissen, für den Entwurf des Berliner Architekturbüros Ortner & Ortner entschieden.

Wenn man nur ungefähr 15 Autominuten von diesem Terrain zwischen Wallgraben und Schockenriedstraße gen Osten fährt, steht man vor einer Art Trutzburg, geschützt von einem weißen, übermannshohen Eisenzaun. Die einstige Daimler-Unternehmenszentrale in Stuttgart-Möhringen hatte der seinerzeitige Konzernchef Edzard Reuter 1990 errichten lassen, 13 Gebäude plus ein elfgeschossiges Hochhaus für damals 3000 Mitarbeiter auf 120 000 Quadratmetern. Das ganze Ensemble, von Reuters Nachfolger Jürgen Schrempp als "Bullshit Castle" verspottet, liegt weitab von jeglicher städtischer Infrastruktur.

Eine solche "Corporate Architecture" gemahnt im 21. Jahrhundert der digitalen Netzwerke eher an eine Zumutung für Insassen und Öffentlichkeit. Und deswegen hat Hugo Daiber mit dem Vaihinger Neubau auch etwas ganz anderes im Sinn: "Ganz oben auf unserer Prioritätenliste für den geplanten Neubau stand, dass wir uns auf jeden Fall in ein städtisches Umfeld begeben wollen, dass wir keine abgeschottete Struktur errichten, sondern Teil eines bestehenden, urbanen Raums werden wollen." Daiber ist Geschäftsführer der Daimler Real Estate GmbH, also Herr über die durch und durch analogen immobilen Bestandteile des Autokonzerns.

"Wir wollten definitiv eine urbane Umgebung für unseren neuen Standort."

Sozusagen Stadtteil Daimler in Stuttgart-Vaihingen will der Unternehmensstandort werden, nicht abgeschottet, nicht abweisend, sondern durchlässig für die durchschlendernde Öffentlichkeit, ohne Zäune, ohne Schwellen. Damit die geplanten "vier Stadtbausteine im urbanen Raum" diese Funktion auch erfüllen können, wird Daimler dann auch Ladenvermieter. Daiber zufolge wird sich der neue Bürostandort als frei zugängliches Areal mit einer öffentlichen Mitte organisch in den Stadtteil einfügen. Die Büros und Projektflächen befinden sich in den oberen Etagen der auf maximale Flexibilität ausgelegten Gebäude mit je sechs Stockwerken. Die Erdgeschosse sind reserviert für Konferenzräume, Kommunikations- und Begegnungszonen, Innovationslabore und andere funktionale Bereiche. In den Erdgeschossen sollen zugleich Betriebsrestaurant und Cafeteria unterkommen, aber auch firmenfremde Dienstleister von der Wäscherei über den Metzgerladen und die Kita bis zum Friseur sollen sich einmieten können und Passanten wie Daimler-Beschäftigten zu Diensten stehen.

Die nächste Frage, die sich bei all diesen großen Daimler-Plänen erhebt: Wieso setzt dieser Mobilitätskonzern neuerdings wieder auf Betoninvestitionen? Immerhin hat Daimler-Chef Dieter Zetsche nach seinem Amtsantritt 2006 beschlossen, dieses "Bullshit Castle" an eine Londoner Immobilienfirma "als nicht betriebsnotwendig" für 240 Millionen Euro zu verkaufen und fortan für die nächsten 15 Jahre zurückzumieten. Der Konzernvorstand zog auf Zetsches Geheiß ins Stammwerk Untertürkheim um, dorthin, wo die Autos gebaut werden.

Und heute? Ist "Betongold" inzwischen auch für Unternehmen wie für viele Privatanleger zum neuen "Asset" in Nullzinszeiten geworden? Nein, das nicht, lacht Daiber. "Die Debatte wird oftmals sehr emotional geführt. Für Daimler ist es zunächst nicht relevant, ob die Immobilie im Eigentum ist oder nicht. Was passen muss ist Lage, Gebäudestruktur und Wirtschaftlichkeit. Und bei langfristig genutzten Immobilien ist Eigentum in der Regel die wirtschaftlichere Wahl. Wenn langfristige Nutzungspläne, also über zehn bis 15 Jahre, vorliegen, versuchen wir oftmals Eigentumsmodelle zu favorisieren. Dass das zwischenzeitlich anders war, hatte auch mit Moden und Trends am Beratermarkt und am Finanzmarkt zu tun."

Davon abgesehen erhebt sich schon die nächste Frage: Wie ergattert man ein solch großes, zusammenhängendes Grundstück in einem Ballungsraum wie Stuttgart? Immerhin, sagt Daiber, habe Daimler schon vor Jahren begonnen, sich auch außerhalb der Stuttgarter Stadtgrenzen umzusehen. "Aber das war alles nicht das, was unseren Plänen und Zielen entsprochen hätte. Wir wollten definitiv eine urbane Umgebung für unseren neuen Standort." Vor eineinhalb Jahren sei Daimler diese Chance, das Grundstück in Vaihingen zu erwerben, sozusagen in den Schoß gefallen. So groß bauen im beengten Stadtgebiet Stuttgart? Kein leichtes Unterfangen. Aber, wie Daiber verrät: "Es ist nicht selten der Strukturwandel, der alteingesessene Firmen neue Standorte suchen und ihre seit Jahrzehnten besetzten Grundstücke frei werden lässt." Wie das des ehemaligen Buchgroßhändlers Koch, Neff & Volckmar. Überdies sei man natürlich der Stadt Stuttgart eng verbunden und möchte gern auf deren Areal weiter Standorttreue beweisen.

Auch der Münchner Versicherer Allianz investiert hier, und die Stadt freut sich

Und schließlich, nun ja, unterhalte man seit vielen Jahren enge Netzwerke zur Stadt und sonstigen Spielern auf dem Stuttgarter Immobiliensektor. Keine Frage, wer würde den großen Gewerbesteuerzahler Daimler so einfach mal in Umlandgemeinden abziehen lassen? Im Sommer 2015, als alle anderen Interessenten im Urlaub waren, hat der Konzern das Areal nach einem Hinweis der städtischen Wirtschaftsförderung gekauft.

Desgleichen tat der Münchner Versicherungskonzern Allianz, der wenige Monate vor Daimler bekannt gab, in der Vaihinger Nachbarschaft seine neue Dependance für ebenfalls 4000 Mitarbeiter zu errichten. Dafür werden 215 000 Quadratmeter Grundfläche der derzeitigen Hauptverwaltung in der Stuttgarter Innenstadt frei. Eine Allianz-Sprecherin versichert, die neue Hauptverwaltung werde sowohl nachhaltig als auch für den Mikro-Standort vorteilhaft gestaltet. Eine Zertifizierung nach dem Platin-Standard der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen sei angestrebt, begrünte Innenhöfe und Dächer, auch die Renaturierung des vorbeifließenden Nesenbaches kann man sich vorstellen. Und die Stadt reibt sich die Hände: Nicht nur bleiben potente Gewerbesteuerzahler innerhalb der Stadtgrenzen erhalten, dazu werden auch Innenstadtareale für dringend benötigten Wohnraum frei.

Doch die Teil-Werdung eines urbanen Umfelds, wie Daiber es nennt, schafft auch Probleme: Verkehrsprobleme nämlich. Daiber betont, dass der neue Daimler-Standort verkehrstechnisch "grandios" angebunden sei - ganz nahe liegt die neu errichtete U-Bahn-Haltestelle der U12, dazu der S-Bahnhof Vaihingen. Zudem will Daimler den neuen Standort auch zu "einem Hub für neue Mobilitätsformen jeglicher Art" ausbauen. Da soll dann alles vertreten sein: von 2600 Tiefgaragenstellplätzen für Autos über car2go und Fortbewegungsempfehlungen über die Daimler-eigene Mobilitätsapp "Moovel", Elektroladestationen und autonomes Fahren bis hin zu 700 Fahrradabstellplätzen. Und das, sagt Daiber, selbstredend und gerne im Verbund mit dem dereinst neuen Nachbarn Allianz. Nicht von ungefähr nennt sich das ganze, neu zu bebauende Areal ja "Synergiepark Vaihingen".

Nur eine Funktion als Stadtteilschaffer wird Daimler wohl eher nicht übernehmen können: die des Wohnungsvermieters. Der Gedanke, in den Neubauten auch Wohnungen mit einzuplanen, sei zwar gar nicht so abwegig, meint Daiber. "Arbeiten und Wohnen nicht mehr kategorisch zu trennen, das ist ja gerade unser Anliegen heute." Aber Wohnbebauung sehe erstens die Baunutzungsverordnung für das erworbene Grundstück nicht vor, und zweitens "bauen wir ja in der Nähe von Wohngebieten", so Daiber. "Das deckt sich nicht nur mit den Bedürfnissen unserer Mitarbeiter, sondern auch mit unseren Neubau-Ansprüchen hinsichtlich urbaner Eingebundenheit."

Kurz: "Bullshit Castle" war gestern; morgen will Daimler ganz unfeudalistisch Stadtbürger unter Bürgern sein.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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