Pipers Welt:Wir sind dran

Lesezeit: 3 min

An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Streiken ist erlaubt, auch in schlechten Zeiten. Trotzdem ist es absurd, angesichts der Corona-Zahlen Tarifpolitik zu betreiben, als sei nichts geschehen.

Von Nikolaus Piper

Streiks sind in Deutschland nicht verboten. Das Streikrecht ist ein Grundrecht und wird durch Artikel 9 des Grundgesetzes (Koalitionsfreiheit) geschützt. Streiks müssen nicht vernünftig oder gerecht sein, um diesen Schutz zu genießen. Daher ist es auch nicht verboten, in einem Augenblick für mehr Geld und kürzere Arbeitszeiten zu streiken, in dem das Land sich einer Art von Gesundheitsnotstand nähert und die Corona-Zahlen so schlimm sind wie im vorigen April. Trotzdem fragt man sich gelegentlich, was eine Organisation dazu bringt, die Rituale der deutschen Tarifpolitik jetzt durchzuziehen, so als sei nichts gewesen. Warnstreiks, während Politiker verzweifelt versuchen, einen zweiten Lockdown zu verhindern. Lohnerhöhungen von 4,8 Prozent fordern, während die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr voraussichtlich um 5,4 Prozent schrumpfen wird und der Staat sich in früher unvorstellbarer Höhe verschuldet, um eine Katastrophe in der Wirtschaft zu vermeiden.

München in diesen Tagen ist ein ganz guter Ort, um diese Rituale der Tarifpolitik unter Corona-Bedingungen zu beobachten. An diesem Freitag sollen die Müllwerker in den Ausstand treten, vor einer Woche waren es die Busfahrer. Nach dem Streikaufruf von Verdi fiel auf den meisten Linien jeder zweite Bus aus, auf anderen brauchte man gar nicht erst zum Bushäuschen zu gehen, es tat sich sowieso nichts.

Und warum das alles? Busfahrerinnen und -fahrer haben in der Tat gelegentlich einen nervenaufreibenden Job. Derzeit haben sie es zum Beispiel immer wieder mit Halbwüchsigen zu tun, die nicht einsehen wollen, dass man im Bus eine Maske tragen muss. Andererseits sind die Mitarbeiter der Münchner Verkehrsgesellschaft vergleichsweise sehr gut gestellt. Zum sicheren Arbeitsplatz kommen 30 Tage Urlaub und die höchsten Schichtzulagen Deutschlands. Wenn man es genau nimmt, ist das, was Verdi bundesweit fordert, hier bereits Wirklichkeit. Auf eine Anfrage der SZ-Lokalredaktion dazu sagte Franz Schütz, zuständig bei Verdi in München für die Verkehrsbetriebe, "konkret" stimme das ja alles. "Uns geht es aber um die grundsätzliche Auseinandersetzung." Die Münchner Verkehrsgesellschaft soll keinen Haustarif mehr haben, sondern einen bundesweit einheitlichen Tarif bekommen, den Verdi jetzt erstreiken will.

Die Münchner warteten also am vergangenen Freitag dem Grundsätzlichen zuliebe vergeblich auf ihren Bus, sie zwängten sich fürs Grundsätzliche in überfüllte Busse und setzten sich dort einem erhöhten Ansteckungsrisiko aus, weil an Abstandsregeln unter diesen Bedingungen nicht zu denken war. Und das soll "langfristig" den Fahrgästen nutzen, wie Verdi behauptet?

Bei der Gelegenheit fällt einem der amerikanische Ökonom Mancur Olson (1932 - 1998) ein. Olson beschäftigte sich mit der Logik kollektiven Verhaltens und damit auch mit dem der Gewerkschaften. Deren wichtigste Leistung sei es, Tarifverträge auszuhandeln, meinte Olson. Tarifverträge aber sind öffentliche Güter, von denen auch solche Arbeitnehmer profitieren, die gar keine Beiträge zahlen. Gewerkschaften haben daher ein ständiges Problem mit Trittbrettfahrern. Das können sie eingrenzen, indem sie zusätzlich Anreize bieten, die nur Mitgliedern zugutekommen. Nun kann man an Olson einiges kritisieren, unter anderem, dass die Menschen nicht so eng materialistisch sind, wie der Ökonom unterstellt. Sie machen auch Dinge, von denen sie kurzfristig nichts haben, die sie aber für sinnvoll halten. Aber genau deshalb muss eine Gewerkschaft immer wieder neu klarmachen, dass ein Streik sinnvoll ist. Sie braucht eine Geschichte, ein Narrativ, wie man heute sagt.

Das Narrativ von Verdi ist die Geschichte von den Helden und Heldinnen der Pandemie, von den Pflegekräften in den Krankenhäusern, die weit über die Grenzen des Zumutbaren hinaus gearbeitet haben. Alle sind sich einig, dass die besser bezahlt werden müssten. Verdi übertrug diese Geschichte auf den gesamten öffentlichen Dienst, also auch auf die Müllabfuhr und die Verkehrsbetriebe, wo sich Streiks besonders gut organisieren lassen.

Dazu passt die Streikparole von Verdi: "Wir halten den Laden am Laufen. Jetzt seid ihr dran!", unter der sich Krankenschwestern, Verwaltungsangestellte und Sparkassenmitarbeiter sammeln. Man möchte da einwenden, dass es Arbeitnehmer gibt, die den Laden gerne auch am Laufen halten würden, es aber nicht können, weil sie auf Kurzarbeit sind oder ihr Arbeitsplatz, etwa in einem Hotel, ganz weggefallen ist. Und wen meint Verdi mit "ihr", wenn sie behauptet, "ihr seid dran"? Tarifpartner von Verdi ist die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA), hinter der Städte, Gemeinden, Märkte und Landkreise stehen. Letztlich sind es also die Bürgerinnen und Bürger, die nach Meinung der Gewerkschaft jetzt "dran" sind. Wir alle eben.

Käme Verdi mit ihren Forderungen durch, dann träfe das besonders Bürger in Städten und Gemeinden mit geringer Finanzkraft, etwa im Ruhrgebiet oder in Ostdeutschland. Und es würde schwieriger, die strukturelle Unterbezahlung, etwa die der Pflegekräfte in den Krankenhäusern, zu beseitigen. Es wäre einfach kein Geld mehr da.

Man kann es natürlich auch positiv sehen. Nachbarn wie Franzosen, Holländern oder Tschechen müssen die Verhältnisse in der Bundesrepublik traumhaft erscheinen. In Frankreich verhängt die Regierung eine nächtliche Ausgangssperre über Paris und andere Städte. Und was machen die Deutschen? Sie streiken für höhere Löhne. Dem Land muss es gut gehen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: