Pipers Welt:Systemfragen

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An dieser Stelle schreibt jeden zweiten Freitag Nikolaus Piper. Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Die Erfahrung mit Corona liefert keine Argumente gegen den Kapitalismus, aber sehr viele dafür.

Von Nikolaus Piper

Wer in diesen Tagen, und sei es zufällig, auf die Website des Deutschen Gewerkschaftsbundes Nordwürttemberg stößt, der findet dort einen interessanten Terminhinweis. Am 10. Dezember diskutiert die DGB-Jugend im Stuttgarter Gewerkschaftshaus über das Thema "Corona im Kapitalismus". Dabei soll es unter anderem darum gehen, "was die Krise und ihre Bewältigung über den kapitalistischen Alltag verraten". Zum Beispiel: "Wenn die zeitweise Unterbrechung der normalen Maloche Millionen in Existenznot bringt, wenn die erzwungene Häuslichkeit der Leute mit einer Zunahme familiärer Gewalt einhergeht, dann wird das schon seine Gründe in den Rollen haben, welche die meisten Leute in der marktwirtschaftlichen Normalität spielen." Will sagen: Irgendwie ist der Kapitalismus schuld an Corona, wir müssen nur noch die Details herausfinden.

Die Gedanken der Stuttgarter Gewerkschaftsjugend mögen ein wenig randständig sein, sie lassen aber ahnen, dass es einen großen Bedarf an Kritik am Kapitalismus gibt, gerade in Corona-Zeiten. Noch während der ersten Welle der Pandemie befand der Schriftsteller Eugen Ruge in der Zeit ("Unser schicker Kapitalismus mit tödlichem Antlitz"), die Kosten der Globalisierung hätten bisher immer die Ärmsten getragen. "Dass die Folgen unserer Wirtschaftsweise (mit Covid-19) nun allmählich und, seien wir ehrlich, in noch abgemilderter Form auf uns zurückkommen, ist nur folgerichtig."

Das evangelische Magazin Chrismon schrieb, Corona zeige, "dass das Konzept des freien Marktes Krisen nicht verhindert und schon gar nicht zu ihrer Lösung beiträgt". Und Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, beklagte gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur, dass es in der Pandemie keine Diskussion darüber gebe, wie man "über den Kapitalismus hinaus denken" könne.

Man könnte einwenden, dass es in der zweiten Welle der Pandemie Dringenderes zu tun gibt, als über den Kapitalismus hinauszudenken. Zum Beispiel darüber, wie die Massenimpfung demnächst möglichst gerecht und effizient organisiert werden kann. Immerhin sollte man aber einräumen, dass Fragen der Wirtschaftsordnung zurzeit durchaus relevant sind. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hat der Staat so massiv in die Wirtschaft eingegriffen wie nach dem ersten Lockdown im März.

Die kapitalistische Wirtschaft hat erstaunlich flexibel auf die brutalen Eingriffe des ersten Lockdowns reagiert

Dass die Regierung ganze Branchen schließt (Gastronomie), dass sie Orchester in die Existenzkrise stürzt und bewusst eine schwere Rezession riskiert - das alles konnte sich bis 2020 niemand vorstellen. Ebenso wenig, dass die EZB nochmals praktisch unbegrenzt Staatsanleihen kauft und so Euros in Billionenhöhe schafft.

Richtig ist, dass die Pandemie etwas mit der Globalisierung zu tun hat. Würden die Menschen nicht reisen, dann könnte sich das Virus nicht ausbreiten. Nur ist das alles andere als ein kapitalistisches Phänomen. Die bisher folgenschwerste Pandemie der Geschichte, die mittelalterliche Pest, brach 1332 in China aus und erreichte 1347 auf einem italienischen Schiff den Hafen von Messina auf Sizilien. Von dort aus verheerte der Schwarze Tod das feudalistische Europa. Frankreich und Italien verloren dabei jeweils die Hälfte ihrer Bevölkerung. Damals gab es noch keinen Kapitalismus.

Abschotten half damals auf die Dauer nichts, und es bringt auch heute nichts, wie die kommunistische Festung Nordkoreas zeigt. Nach allem, was man weiß, wütet das Virus dort ebenso, obwohl die Diktatur die Grenzen des Landes rigoros geschlossen hat.

Wenn man überhaupt Corona mit dem Wirtschaftssystem in Verbindung bringen will, dann liefert die Pandemie keine Argumente gegen den Kapitalismus - aber sehr viele dafür. Die kapitalistische Wirtschaft hat erstaunlich flexibel auf die brutalen Eingriffe des ersten Lockdowns reagiert. Sobald die Einschränkungen etwas gelockert wurden, kam der Motor wieder in Gang. Wie die Welt im kommenden Frühjahr aussieht, wenn auch der zweite Lockdown zu Ende geht, weiß niemand. Bisher jedoch bestätigt sich, dass Marktwirtschaften viel besser auf Schocks reagieren als bürokratische Systeme.

Wohl wahr, es waren die Milliarden des Staates, die zunächst einmal das Schlimmste verhinderten. Entscheidend dabei war aber, dass der deutsche Staat dank einer florierenden Marktwirtschaft diese Milliarden auch hat. Genauer: dass der Bundesfinanzminister praktisch unbegrenzt kreditwürdig ist.

Die G-20-Staaten einigten sich auf eine gerechte Verteilung der knappen Impfdosen

Und dann ist es alles andere als selbstverständlich, dass weniger als ein Jahr nach dem Ausbruch von Covid-19 in Europa bereits einer oder mehrere Impfstoffe zur Verfügung stehen. Das ist das Ergebnis einer sehr effektiven Kombination von Unternehmergeist, medizinischem Fortschritt und massiver staatlicher Förderung. Und es sagt auch etwas aus über die Chancen einer freien Marktwirtschaft, dass hinter Biontech, der derzeit größten Impfhoffnung, Uğur Şahin und Özlem Türeci stehen, zwei Kinder türkischer Einwanderer in Deutschland.

Schließlich noch ein Hinweis auf die gängige Kritik, wonach der Kapitalismus nur für die Reichen funktioniere, während die Armen die Zeche zahlen müssten. Am vorigen Wochenende vereinbarten die G-20-Staaten - zu ihnen gehören die Industrie- und einige Schwellenländer - eine Vereinbarung zur gerechten Verteilung der knappen Impfdosen in der Welt. Für die Versorgung armer Staaten stehen dabei bisher fünf Milliarden Dollar zur Verfügung.

Sicher wird sich die Wirtschaft nach dem Schock der Pandemie grundlegend verändern. Das kann nicht anders sein. Man kann nur hoffen, dass dabei keine Abkehr vom Kapitalismus herauskommt.

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