Pipers Welt:Faktencheck

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Noch nie standen Ökonomen so viele Daten und Informationen zur Verfügung wie heutzutage. Dennoch kursieren immer noch unbewiesene Behauptungen über Wirtschaft.

Von Nikolaus Piper

Früher war bekanntlich alles besser. Eine bemerkenswerte Ausnahme jedoch sind die Wetterberichte. Die Prognosen werden immer zuverlässiger und genauer, aus dem einfachen Grund, dass die Meteorologen heute nicht nur wesentlich differenziertere Wettermodelle haben als im analogen Zeitalter, sondern auch die leistungsfähigen Computer, um diese Modelle zu rechnen.

Bei den Ökonomen sieht es ganz ähnlich aus. Die moderne Wirtschaftswissenschaft ist vielfältiger geworden, die hat, genau wie die Meteorologie, bessere Methoden und unvergleichlich mehr Daten. Deshalb lassen sich ökonomische Theorien auch viel besser testen als früher. Führt der Mindestlohn zu höheren Löhnen oder nur zu weniger Arbeitsplätzen? Bei der Frage ist man nicht auf Ideologien angewiesen, man kann ganz einfach messen. Die Ergebnisse der Messungen sind durchaus interpretationsfähig. Der staatliche Mindestlohn habe dazu geführt, dass es weniger Minijobs und dafür mehr reguläre gibt, sagen die einen. Ja, sagen die anderen, aber die Arbeitszeiten wurden verkürzt und die Arbeit verdichtet. Entscheidend ist, dass man auf informierte Weise über eine These diskutieren kann. Im Idealfall führt dies zu einer "evidenzbasierten Wirtschaftspolitik", wie das heute heißt.

Das lässt hoffen für die Ökonomie. Das Merkwürdige ist nur, dass sich in der Öffentlichkeit kein Mensch für Evidenz interessiert. Fernsehtalker, Großdenker und Blogger beschäftigen sich lieber mit einfachen und nicht überprüfbaren Thesen, die dann Implikationen haben, die keiner versteht. Zum Beispiel die Behauptung, dass "uns" durch die Digitalisierung die Arbeit ausgeht. Sie wird in der Regel belegt durch anekdotisches Wissen: Ein Elektromotor braucht eben weniger Arbeit als ein Benziner, Roboter bevölkern die Fabriken und werden demnächst auch noch Auto fahren. Nun gibt es wenig Zweifel daran, dass die Digitalisierung die Arbeitswelt umwälzen wird, aber dass dies zu einem massiven Abbau der Beschäftigung führen wird, dafür gibt es keinen Hinweis. Im Gegenteil: In Deutschland fehlen 700 000 Facharbeiter, dazu Lehrer, Pflegekräfte, Bauarbeiter und viele andere Berufe.

Es hülfe bei dem Thema vor allem ein Blick auf die Daten. Würde die These vom Verschwinden der Arbeit zutreffen, müsste sich dies in einem dramatischen Anstieg der Arbeitsproduktivität niederschlagen. In Wirklichkeit wächst die Produktivität derzeit ungewöhnlich langsam, was Probleme ganz eigener Art schafft. Es wäre dringlicher, darüber zu diskutieren als über die Roboter, die uns die Jobs wegnehmen.

Daten machen die Ökonomie nicht einfacher, aber sie helfen gegen Alarmismus

Auch über Armut und Reichtum lassen sich auf der Grundlage anekdotischer Beobachtungen sehr weitreichende Theorien bilden. Der Münchner Soziologe Stephan Lessenich zum Beispiel hat ein sehr erfolgreiches Buch über die Ungleichheit in der Welt geschrieben ("Neben uns die Sintflut"). Dessen zentrale These lautet: "Es geht den einen 'gut', bzw. besser, weil es den anderen 'schlecht' oder jedenfalls weniger gut geht." Lessenich spricht von "Externalisierung": Wir in den reichen Ländern lagern die Kosten unseres Wohlstands in den "globalen Süden" aus. Bei so einer radikalen These möchte man nun schon wissen, wie das genau funktioniert. Das müsste möglich sein, denn Externalisierung ist ein bekanntes ökonomisches Phänomen, das man messen kann. Aber dieser Messung (Lessenich spricht von "mikroökonomischer Fundierung") verweigert sich der Autor explizit. Dies würde nur zur "üblichen Berufung auf Marktmetaphern" führen und helfe daher nicht weiter. Damit jedoch ist die These gegen jede Überprüfung hermetisch abgeschlossen, man kann sie nicht mehr diskutieren. Man kann nur einwerfen, dass es ja durchaus externe Effekte gibt, die sich messen lassen. Wenn die EU zum Beispiel subventioniertes Hühnchenfleisch nach Afrika exportiert und so dort die Bauern um ihren Broterwerb bringt. Aber das ist fehlgeleitete Agrarpolitik, nicht Kapitalismus. Außerdem gibt es auch positive Externalisierung. So stehen den heute noch armen Ländern viele Technologien zur Verfügung, die in den alten Industrieländern über Jahrzehnte entwickelt wurden. Wie nützlich das ist, lässt sich in Asien besichtigen.

Eine verbreitete Unsitte ist es auch, Daten zwar zu verwenden, diese aber nicht genau anzuschauen. So ist es mit Aussagen wie: "In den vergangenen 20 Jahren hat die Ungleichheit in Deutschland zugenommen." Sie ist zweifellos richtig, sie geht nur über ein wichtiges Detail hinweg. Die Zunahme fand zwischen 1999 und 2005 statt, seither ist die Messgröße für Ungleichheit (der Gini-Koeffizient) ungefähr gleich geblieben. Und im globalen Maßstab hat die Ungleichheit nicht zu-, sondern abgenommen. Ursache ist da der wirtschaftliche Aufstieg Asiens. All dies ist nachzulesen im Jahresgutachten 2016/2017 des Sachverständigenrates. Oder die Sache mit der steigenden Kinderarmut, über die im Wahlkampf so viel geklagt wurde. Es stimmt, von 2015 bis 2016 ist in Deutschland der Anteil der Kinder in Armut von 19,7 auf 20,3 Prozent gestiegen. Aber das war vor allem ein statistischer Effekt, weil nach und nach die Flüchtlingsfamilien erfasst werden, die natürlich arm sind, wenn sie in Deutschland ankommen. Unter Kindern ohne Migrationshintergrund ging die Armut um 0,2 Prozentpunkte auf 13,3 Prozent zurück, unter den Kindern von Migranten, die hier geboren wurden, sogar um 0,7 Punkte - eine sehr gute Nachricht.

Dies festzustellen, bedeutet nicht, dass man nichts gegen Kinderarmut, soziale Ungerechtigkeit und andere Missstände tun sollte. Aber es nimmt den verbreiteten Alarmismus und den antikapitalistischen Furor aus der Debatte. Und wahrscheinlich hilft ein gelegentlicher ökonomischer Faktencheck auch gegen populistische Versuchungen.

© SZ vom 22.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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