Schluss mit der umstrittenen "Minuten-Pflege": Zum Jahreswechsel kommt das Pflegestärkungsgesetz II und krempelt die Einstufung der Pflegebedürftigkeit von Millionen Kranken komplett um. Entscheidend wird künftig, wie selbständig jemand noch seinen Alltag meistern kann. Aus den heute drei Pflegestufen werden 2017 fünf Pflegegrade. Doch nicht alle Betroffenen profitieren vom neuen System. Wer sich noch bis Jahresende einstufen lässt, kann Geld sparen. Für Menschen mit rein körperlichem Handicap etwa kann eine Begutachtung nach den alten Regeln finanziell vorteilhafter sein, wie Verena Querling, Juristin und Pflegerechtsexpertin der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen, betont. Auch ein vorgezogener Umzug ins Pflegeheim noch in diesem Jahr oder der Verzicht von Heimbewohnern auf eine höhere Pflegestufe kann Geld sparen.
Was ändert sich?
Neu ist von kommendem Jahr an, dass geistige und psychische Beeinträchtigungen eine größere Rolle spielen, wenn es darum geht, den Grad der Pflegebedürftigkeit einzustufen. Für die fünf Pflegegrade zählen nicht mehr nur körperliche Einschränkungen, sondern auch die Abhängigkeit von Helfern im Alltag. Davon profitieren vor allem Kranke, die körperlich fit sind, aber bei täglichen Dingen wie Zähneputzen, Anziehen oder Waschen Hilfe brauchen. Das sei besonders für Menschen mit Demenzerkrankung eine wesentliche Verbesserung, sagt Meret Lobenstein, Pflegeexpertin der Verbraucherzentrale Rheinland-Pfalz. Die Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkasse (MDK) werden künftig sechs Bereiche wie etwa die Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhalten und Selbstversorgung im Alltag des Patienten prüfen und daraus den Pflegegrad ermitteln.
Wer sollte bis Silvester handeln?
Für Menschen mit rein körperlicher Beeinträchtigung kann die Reform Nachteile bringen. Mit der neuen Bewertungsgrundlage wird es für sie häufig schwerer, einen höheren Pflegegrad attestiert zu bekommen. Betroffene mit körperlichem Handicap, bei denen die Pflegebedürftigkeit absehbar ist, sollten deshalb noch in diesem Jahr einen Antrag auf Leistungen aus der Pflegeversicherung stellen, rät Lobenstein. Zeit dafür ist noch bis zum Jahresende. Auch wenn der Gutachter dann erst 2017 kommt: Antragsteller sichern sich so die Möglichkeit, sich nach dem alten, heutigen Verfahren begutachten zu lassen und letztlich finanziell besser gestellt zu sein. Denn: Je höher der Pflegegrad, desto höher die Zahlungen der Pflegekasse.
Wer ist noch betroffen?
Für Menschen, die aus gesundheitlichen Gründen sowieso planen, in nächster Zeit in ein Pflegeheim zu gehen, sei ein vorgezogener Umzug noch in diesem Jahr ratsam, betont Eugen Brysch, Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz. Bei einem Einzug noch in diesem Jahr könnten Betroffene die höheren Leistungen der jetzigen Pflegestufen I und II erhalten, je nach Einzelfall. Bei der Umstellung auf das neue System herrscht Bestandsschutz. Die 2016 bewilligten Einstufungen bleiben erhalten und werden in höhere Pflegegrade umgewandelt. Wer erst im nächsten Jahr in eine stationäre Einrichtung zieht und einen niedrigen Pflegegrad erhält, etwa 1 oder 2, hat finanzielle Einbußen. "Obere Pflegegrade bekommen künftig mehr Geld bei stationärer Pflege, untere weniger", gibt Querling zu bedenken. Dazu kommt: Künftig müssen Heimbewohner einen einheitlichen Eigenanteil bezahlen. Derzeit hängt die Höhe von der Pflegestufe ab. Menschen mit niedrigem Pflegegrad werden dadurch bald stärker zur Kasse gebeten als heute. "Das kann unterm Strich 450 bis 500 Euro Mehrausgaben im Monat bedeuten", sagt Brysch. Bei allen, die noch bis zum Jahresende ins Heim umziehen, zahlt die Pflegekasse jedoch einen Zuschuss und gleicht so die Differenz zwischen dem alten und dem neuen Eigenanteil aus.
Was gilt es zu vermeiden?
Wer als Pflegebedürftiger bereits heute in einer stationären Einrichtung lebt, sollte sich jetzt nicht "überreden" lassen, noch eine höhere Pflegestufe zu beantragen, mahnt Brysch zur Vorsicht. So manches Heim schlage den Bewohnern derzeit vor, sich von Stufe I auf II oder von II auf III höherstufen zu lassen. Denn: Dadurch müssen die Patienten einen höheren Eigenanteil zur Finanzierung des Heimplatzes zahlen. Das Geld fließt direkt in die Kassen der Heime. Während die Einrichtung profitiert, bedeutet das für Betroffene eine finanzielle Mehrbelastung. "Besteht keine absolute Notwendigkeit für eine Höherstufung noch in diesem Jahr, sollten die Pflegebedürftigen besser abwarten", betont der Fachmann.
Wer muss sich nicht kümmern?
Die Mehrzahl der gut 2,5 Millionen Pflegebedürftigen muss bei der Umstellung aufs neue System gar nichts tun. Der Wechsel passiert automatisch, ohne neue Begutachtung. Menschen mit körperlichen Handicaps, die im Alltag noch ohne Hilfe gut zurechtkommen, kriegen dabei den nächst höheren Pflegegrad zugeteilt - also beispielsweise von Pflegestufe I auf Grad 2, von II auf Grad 3. Wer zudem eine erhebliche Einschränkung der Alltagskompetenz wegen geistiger oder psychischer Einschränkungen attestiert bekam und zum Beispiel jetzt schon in Pflegestufe II ist, macht den Sprung in den übernächsten Pflegegrad - und ist ab 1. Januar 2017 automatisch in Pflegegrad 4.
Müssen Menschen mit Pflegestufe Einbußen befürchten?
Niemand soll durch die Pflegereform schlechter gestellt werden, versichert die Bundesregierung. Pflegebedürftige, die schon jetzt Geld aus der Pflegeversicherung beziehen, kriegen nach der Überleitung in den neuen Pflegegrad in der Regel sogar mehr Geld ausgezahlt. Ein Beispiel: Wer von der heutigen Pflegestufe I, die die meisten Pflegebedürftigen haben, bei der Umstellung auf Pflegegrad 2 eingruppiert wird, bekommt statt bisher 244 Euro künftig 316 Euro, wie Lobenstein vorrechnet. Beim Sprung von Pflegestufe I auf Pflegegrad 3 steigt die Leistung von 316 auf 545 Euro. Aber: Wer 2017 erst in ein Pflegeheim zieht, bekommt mit den niedrigen Pflegegraden 2 und 3 künftig 294 Euro respektive 68 Euro weniger gezahlt. Außerdem steigt die Zuzahlungslast.