Wenn Wolfgang Schäuble auf US-amerikanische Wirtschaftsprofessoren angesprochen wird, reagiert er schnell säuerlich. Das beruht auf Gegenseitigkeit. Der Bundesfinanzminister habe aus der Krise nichts gelernt, schimpft Paul Krugman - der Nobelpreisträger scheint damit stellvertretend für das Gros seiner Zunft jenseits von Atlantik und Ärmelkanal zu stehen. Die Amerikaner gegen die Deutschen, die Deutschen gegen die Briten.
Seit Beginn der Finanzkrise scheint der Graben stetig größer zu werden. Da sind die Anglo-Amerikaner, die stets für billiges Geld und mehr Ausgaben sind, um die Wirtschaft aus der Krise zu holen. Und hier die Hüter strenger Geld- und Finanzpolitik, die dem Finanzminister beistehen, auf höhere Zinsen und schnelle Einschnitte im Etat setzen - von Bundesbankpräsident Jens Weidmann über Ifo-Boss Hans-Werner Sinn bis zum Chef des amtlichen Sachverständigenrats Christoph Schmidt.
Denken deutsche Ökonomen wie die deutsche Regierung?
So will es das Klischee. Die Wirklichkeit ist eine andere, das Meinungsbild unter Deutschlands Experten ist jedenfalls gar nicht so eindeutig. Das ergibt eine Befragung von gut 1000 deutschsprachigen Ökonomen. Danach sind viele vermeintlich typisch deutsche Positionen zunehmend umstritten - und das Urteil manches Stars ist nicht mehrheitsfähig. Kurz: Die deutschen Professoren sind sehr viel amerikanischer in ihrem Denken, als zu vermuten wäre. Tendenz: steigend, so das Ergebnis der großen Umfrage, die das Internetportal Wirtschaftswunder im Auftrag der Süddeutschen Zeitung gemacht hat.
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
SZ-Grafik: Lisa Bucher; Quelle (7): Dritte große Ökonomenumfrage von Neuewirtschaftswunder.de / SZ, Mai/Juni 2015
Seit Monaten hagelt es von US-Ökonomen Kritik an der vermeintlichen deutschen Manie, Krisenländer zu harten Kürzungen und heftigen Steuererhöhungen zu drängen - Reizwort Austerität. Den Vorwurf, der von Bundesregierung und anderen stoisch zurückgewiesen wird, teilt immerhin jeder fünfte deutsche Kollege. Noch einmal ein Fünftel sagt, dass die Vorbehalte aus Übersee berechtigt sind, Europa aber keine andere Wahl gehabt habe. Für durchweg richtig halten den offiziellen deutschen Kurs nur 12,6 Prozent.
Noch vor fünf Jahren, bei der Vorgängerumfrage, befanden nur knapp 18 Prozent der deutschen Ökonomen, dass Regierungen ganz grundsätzlich die Wirtschaft stabilisieren können, indem sie je nach Konjunktur mehr oder weniger Geld ausgeben und mehr oder weniger Schulden machen. Seither hat sich der Anteil auf 36 Prozent verdoppelt. Mehr als die Hälfte der Experten hält eine Konjunkturstütze für sinnvoll, zumindest in Ausnahmefällen wie der globalen Rezession nach dem Lehman-Crash 2008. Strikt dagegen ist nicht einmal mehr jeder Zehnte. In der ersten Umfrage 2006 - vor Ausbruch der Finanzkrise - hielt es noch fast jeder Dritte für müßig, die Konjunktur glätten zu wollen. Die Quote der Befürworter erreichte damals nur gut zwölf Prozent.
Fast 70 Prozent stimmen Krugman zu
Deutlich gestiegen ist unter Deutschlands Ökonomen auch der Anteil derer, die sagen, dass sich Staatsschulden nur abbauen lassen, wenn die Wirtschaft einigermaßen gut läuft, so wie es Krugman und andere predigen. Dem stimmen mittlerweile fast 70 Prozent der deutschen Ökonomen zu; 2010 waren es gut 60 Prozent. Auch das passt nicht zur reinen schwäbischen Lehre, wonach Ausgaben gekürzt und Steuern erhöht werden können und müssen, egal wie die Wirtschaft läuft. Hochaktuell: eben diese Frage entzweit die Expertenwelt in diesen Wochen auch, wenn es darum geht, Griechenland zu retten. Erst hart kürzen - oder doch zumindest gleichzeitig die Wirtschaft mit Geld anschieben?
Noch frappierender driften deutsch-amerikanisches Klischee und Umfragewerte auseinander, wenn es um die Krisenstrategie der Notenbanker geht. Deutschlands Bundesbankchefs haben in den vergangenen Jahren immer wieder dagegen gestimmt, die Zinsen weiter zu senken oder Staatsanleihen zu kaufen, wie es die US-amerikanischen und britischen Kollegen seit Krisenbeginn schon tun. Axel Weber und Jürgen Stark traten aus Protest sogar zurück.
Auch hier gibt sich das Gros der deutschen Ökonomen amerikanisch pragmatisch. Rund zwei Drittel antworteten in der Befragung, dass die Währungshüter in einer Finanzkrise als Retter in letzter Instanz (lender of last resort) eingreifen müssen, um einen panikartigen Ausverkauf an den Märkten zu verhindern. Jeder Fünfte hält das sogar uneingeschränkt für gut, fast die Hälfte unter Vorbehalt. In der Minderheit sind mit 27 Prozent die Sympathisanten der Bundesbank, die so etwas ganz und gar ablehnen.
Ähnliches gilt für die hochsensible Frage, ob es überhaupt mit dem Mandat der Europäischen Zentralbank (EZB) vereinbar ist, wenn diese Staatsanleihen kauft. Dagegen poltern seit Monaten Kritiker wie Ifo-Chef Sinn. Auch hier scheinen die Orthodoxen keine Mehrheit zu haben. Nur 36 Prozent von Sinns Kollegen meinen, dass EZB-Chef Mario Draghi gar nicht hätte anfangen dürfen, Staatspapiere zu erwerben. Mehr als die Hälfte hält es mit dem Votum führender US-Ökonomen: Das war richtig - auch wenn die Notenbanker im Urteil von jedem dritten Befragten ihr Mandat formell damit überschritten haben. Der Zweck heiligt die Mittel.
Das Votum hat es in sich. Der Europäische Gerichtshof hat diese Woche geurteilt, dass die EZB-Eingriffe rechtens sind. Jetzt ist das Bundesverfassungsgericht dran. Und die obersten deutschen Richter haben sich bei Anhörungen bis dato weit mehrheitlich von Ökonomen beraten lassen, die dem Ifo-Chef und seiner ablehnenden Position nahe stehen. Folgt man der Umfrage, scheint das kategorische Nein in Deutschland heute eine Minderheitsposition zu sein. Bei der Anhörung 2013 gab es nur einen EZB-Verteidiger: Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.
Aber warum denken die Deutschen jetzt amerikanisch?
Selbst bei einem der amerikanischen Lieblingsthemen scheint die Zunft gar nicht so deutsch zu sein, wie es das Klischee erwarten ließe: Deutschlands großen Exportüberschüssen. Seit Jahren bemängeln Ökonomen wie Krugman und Joseph Stiglitz, dass die Deutschen so viel mehr exportieren, als sie selbst im Ausland einkaufen - 2014 in Rekordhöhe von 220 Milliarden Euro - statt Wirtschaft und Importe stärker anzukurbeln. Eine Kritik, die Bundesregierung wie Sachverständigenrat erbost zurückweisen. Nach der Umfrage hält nur gut ein Fünftel der deutschen Experten den Handelsüberschuss für unbedenklich. Etwa 30 Prozent räumen ein, dass er ein Problem sei, die Lösung aber vor allem bei denen liegen sollte, die zu wenig exportieren und zu viel importieren: den Defizitländern.
Immerhin jeder Dritte hält das Ungleichgewicht - wie viele US-Kollegen - für problematisch und sieht die Bundesregierung in der Verantwortung, zum Abbau beizutragen, indem sie etwa dafür sorgt, dass die Menschen mehr Geld ausgeben können. Dann würde auch mehr importiert - und der Einfuhrmangel würde schwinden. Fast 40 Prozent der deutschen Ökonomen sagen, die Binnenkräfte sollten dauerhaft gestärkt werden.
Bleibt die Frage, warum Deutschlands Wirtschaftswissenschaftler so viel anglo-amerikanischer sind, als es den Anschein hat. Eine Antwort könnte darin liegen, dass der Schein trügt, weil nur wenige öffentlich auftreten und das Image prägen. Eine andere ist, dass Amerika akademisch immer noch den Maßstab setzt. Wer etwas werden will, muss in US-Fachzeitschriften publizieren. Dafür wandern die Professoren immer öfter auch aus - wenigstens auf Zeit. Noch 2010 gaben in der Umfrage fast 45 Prozent an, nie im Ausland gearbeitet zu haben. Die Quote ist seither um fast zehn Punkte gesunken. Mittlerweile haben zwei Drittel der Gelehrten das Heimatland der ordnungspolitischen Grundsätze beruflich schon einmal für längere Zeit verlassen.
Wer in den USA war, scheint auch einen Vorzug schätzen gelernt zu haben: dass es für Wirtschaftsprofessoren dort viel einfacher als nach deutschem Dienstrecht ist, in die Politik - und danach wieder zurück - zu gehen. Mehr als die Hälfte wünscht sich, dass das auch bei uns möglich wird. Kann natürlich nur sein, dass unser Finanzminister so viel amerikanischen Einfluss nicht gut findet.