Ökonomen-Serie:Undogmatisch

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Marcel Fratzscher ist schnell zu einem der Top-Ökonomen Deutschlands aufgestiegen. Der DIW-Präsident berät den Bundeswirtschaftsminister.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Er hat es nicht geschafft. Manche Beobachter sahen Marcel Fratzscher schon auf Platz eins klettern, doch der Ökonom, der in 32 wichtigen Medien in Deutschland am meisten zitiert wurde, bleibt im ersten Halbjahr 2015 Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchner Ifo-Instituts. Fratzscher, seit Anfang 2013 Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), folgt ihm mit gut 100 Zitaten wie schon im vergangenen Jahr auf Rang zwei dicht auf den Fersen.

Man sollte diese Abzählerei nicht überbewerten. Das Ranking des Instituts Mediatenor sagt nichts darüber aus, welcher Volkswirt im Land wirklich Einfluss hat. Aber es kann in Zahlen gegossene Belege dafür liefern, wer gerade gefragt ist. Und was das angeht, hat Fratzscher, 44, in den gut zwei Jahren als DIW-Präsident eine erstaunliche Blitzkarriere hingelegt.

Der neue Star am Ökonomen-Himmel ist derzeit omnipräsent. Er äußert sich über den Kurznachrichtendienst Twitter fast täglich über Griechenland. Fratzscher macht sich in Gastbeiträgen für einen europäischen Finanzminister stark. Veröffentlichen die Wirtschaftsweisen ein Sondergutachten, verschickt die DIW-Pressestelle einen Kurzkommentar ihres Präsidenten, der bisher nicht dem Sachverständigenrat der Bundesregierung angehört. Fragt man ihn in seinem Büro, wie viel Zeit ihm die Mission "Fratzscher auf allen Kanälen" kostet, sagt er: Bis zu 50 Prozent gingen für die interne Arbeit im Institut drauf, zehn bis 15 Prozent für die Forschung, der Rest für Öffentlichkeitsarbeit.

Der Mann, das ist offensichtlich, will etwas bewegen. Aber er mag es gar nicht, wenn man ihn deshalb in eine politische Ecke stellt.

Nachdem er in seinem Buch "Die Deutschland-Illusion" die Republik zu mehr Investitionen aufforderte und ihn dann Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) zum Chef einer Kommission kürte, die sich genau um dieses Thema kümmern soll, sahen manche Beobachter in Fratzscher bereits Gabriels Geheimwaffe. "Er ist jetzt so etwas wie der Chefökonom des Wirtschaftsministers, vielleicht sogar der ganzen Regierung", schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

(Foto: Andreas Pein/Laif)

Doch erstens reicht sein Einfluss gar nicht so weit, schon gar nicht ins Kanzleramt oder Bundesfinanzministerium. Und zweitens will sich Fratzscher "politisch weder links, noch rechts, noch irgendwo verorten". Er könne informieren und beraten, sagt er. Es dürfe aber nicht das Ziel von Wissenschaftlern sein, Entscheidungen von Politikern zu beeinflussen. "Sonst verlieren wir unsere Unabhängigkeit."

Auch als Ökonom will sich der DIW-Präsident nicht in eine Schublade einordnen lassen. "Deutsche Wirtschaftswissenschaftler predigen die Ordnungspolitik wie ein religiöses Dogma. Wir sollten als Wissenschaftler aber kein Dogma haben." Fratzscher kann da richtig leidenschaftlich werden: Das sture Festhalten an diesen Prinzipien - das sei der Grund, "warum wir deutschen Ökonomen in vielen Fragen international isoliert sind", sagt er. So ist das, was unter seiner Führung an Forschungsarbeiten aus dem größten wirtschaftswissenschaftlicher Institut des Landes kommt, jedenfalls nicht irgendeinem ökonomischen Lager zuordnen. "Die Mietpreisbremse bringt mehr Schaden als Nutzen", erklärten DIW-Experten. Der Mindestlohn sollte "nicht zu hoch angesetzt werden", warnte das Institut vor Einführung der 8,50-Euro-Marke. Deutschland weise ein "hohes Maß an Vermögensungleichheit" auf, die Ungleichheit bei den Einkommen habe sich seit 2005 kaum noch verändert, hieß es in anderen Studien. Man wolle "Empfehlungen aussprechen, die auf Fakten basieren", beschreibt der Präsident diese Arbeit.

Fratzscher war schon vor seiner DIW-Zeit aufgefallen. Der Sohn einer Chemikerin und eines Agrarökonomen, der in Kiel, Oxford und Harvard studierte und während der Asien-Krise am Harvard-Institut in Indonesien war, arbeitete seit 2001 in der Europäischen Zentralbank (EZB), seit 2008 als Abteilungsleiter. Wohl auch deshalb sind der Euro und Europa für ihn bis heute eine Herzensangelegenheit. Ihn ärgert "diese deutsche Überheblichkeit. Mich stört, wenn wir so tun, als ob wir alles richtig gemacht hätten und nur wir uns an Regeln halten. Dabei haben wir Deutschen als eine der ersten den europäischen Stabilitätspakt gebrochen".

Damals, in seiner EZB-Zeit, war er ein öffentlich noch weitgehend unbekannter Forscher, der sich in Fachkreisen aber früh einen Namen machte. In seinen Arbeiten zeigte Fratzscher, wie sich der Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers über den Globus fressen konnte. Außerdem beschäftigte er sich mit der Frage, wie Zentralbanken kommunizieren sollten. "Damit trug der Ökonom dazu bei, dass der geheimnisumwobene Notenbanker à la Alan Greenspan, der sich darin gefällt, nicht mehr als ein paar kryptische Hinweise von sich zu geben, der Vergangenheit angehört", schrieb Carl Christian von Weizsäcker, einst Chef der Monopolkommission.

Zwei Lieblingsbücher

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(Foto: Verlag)

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers: "Das Buch berührt mich tief. Was Zweig für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts beschreibt, lässt sich auch auf das heutige Europa übertragen. Ich halte die Rückkehr des Nationalismus und die Renationalisierung der Politik für gefährlich." Steven Levitt und Stephen Dubner, Freakonomics: "Ein spannendes Buch über das alltägliche Leben aus einer verhaltensökonomischen Perspektive und wie wir Wirtschaftswissenschaftler damit einen gesellschaftlichen Beitrag leisten können."

Als DIW-Präsident gelangen Fratzscher bereits zwei Coups: Das Berliner Institut wurde zurück in den Kreis der Konjunkturforschungsinstitute der Bundesregierung berufen. Und über die Frage, ob Straßen, Brücken und Schienen verfallen und Deutschland von der Substanz lebt, wird mittlerweile bundesweit diskutiert - zum Ärger mancher Kritiker. Fratzscher ist für sie der Mann, der den Politikern die Lizenz erteilt, mehr Geld auszugeben. Er wolle nur, "dass der Staat das Steuergeld besser ausgibt", sagt der DIW-Chef dazu. Und dabei sei es richtig, sich mehr auf öffentliche Investitionen und Bildung zu konzentrieren.

Sein nächstes Buch wird wohl erneut die Gemüter bewegen. Nachdem der französische Ökonom Thomas Piketty die These aufstellte, im Kapitalismus konzentriere sich das Vermögen in der Hand weniger reicher Familien, will sich auch Fratzscher mit der Ungleichheit beschäftigen. Ihm geht es dabei nicht um die obersten ein Prozent der Bevölkerung und ob es gerecht ist, dass diese Gruppe einen Großteil des Vermögens auf sich vereint. Ihn bewegen die unteren 40 Prozent. Er fragt sich: "Was bedeutet es für unser Land und unsere Wirtschaft, wenn ein großer Teil der Bevölkerung seine Talente nicht entwickeln und nicht am Wirtschaftsleben teilhaben kann?" Für den Bundestagswahlkampf könnte das ein gutes Thema werden.

© SZ vom 18.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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