US-Ökonom:"Ungleichheit ist nicht schädlich, ungleiche Chancen schon"

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Vor allem die ungleichen Chancen bei der Ausbildung verschärfen die Ungleichheit, sagt US-Ökonom David Autor. (Foto: dpa)

Die Superreichen und ihr Abstand zum Rest sind nicht unser größtes Problem, sagt US-Ökonom David Autor. Es ist die Bildung.

Interview von Johannes Kuhn, New Orleans

Keine Debatte emotionalisiert stärker als die Frage, wie ungleich Einkommen und Vermögen auf dieser Welt verteilt sind. Die Kritik am "einen Prozent" Superreicher, die in den USA 99 Prozent des neuen Einkommens verdienen, macht den Demokraten Bernie Sanders selbst in dem Reichen gegenüber toleranten Amerika zu einem veritablen Kandidaten. Der französische Ökonom Thomas Piketty wiederum gilt als Urheber der Debatte über die Vermögensverteilung in den Industrienationen, bei der Arbeit schlechtere Renditen als Kapital bringt.

Erst vor Kurzem ermittelte das Statistische Bundesamt in Verbraucher-Stichproben, dass die reichsten zehn Prozent der Deutschen mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens besitzen. Doch ist die Ungleichheit wirklich nur in den Extremen zu finden? David Autor, renommierter Wirtschaftsprofessor am Massachusetts Institute for Technology (MIT), forscht schon lange über Arbeitsmärkte, veränderte Anforderungsprofile in Berufen und Ursachen und Folgen von Ungleichheit. Schon 1998 untersuchte er die Konsequenzen der Computerisierung für den Arbeitsmarkt. Als Co-Direktor der MIT-"School Effectiveness and Inequality Initiative" beschäftigt er sich damit, wie Bildungssysteme Ungleichheit fördern oder mindern können. Im Interview spricht er über das Problem der Ungleichheit innerhalb der "99 Prozent", die nicht superreich sind.

SZ: Es gibt seit Jahren eine große Debatte über Ungleichheit, besonders den Unterschied zwischen dem superreichen "einen Prozent" und dem Rest. Sie sagen, wir führen die falsche Diskussion.

David Autor: Halt, ich behaupte nicht, dass uns das "eine Prozent" egal sein sollte. Aber der Fokus auf diese Form von Ungleichheit suggeriert, dass nur die Verteilung ganz oben relevant ist. Wenn du also nicht ein Genie wie Bill Gates oder ein Gauner wie Bernie Madoff bist, kriegst du nichts vom Kuchen ab. Das ist falsch.

Reden wir also über die 99 Prozent. Wie entsteht dort Ungleichheit?

Bildung ermöglicht es Menschen, ihren Lebensstandard zu verbessern und ein erfüllendes Leben zu führen. Gut ausgebildeten Menschen geht es immer besser, sie verdienen immer mehr, leben länger, sind gesünder. Doch Bildung ist auch einer der größten Faktoren, durch den Ungleichheit entsteht.

Inwiefern?

Die Industrieländerorganisation OECD hat in ihrer PIAAC-Studie die Kompetenzen von Erwachsenen untersucht und mit dem Einkommen verglichen. Wer in den Industrienationen gut ausgebildet ist, erhält einen deutlich stärkeren "Gehaltszuschlag" als früher. In den skandinavischen Ländern ist der Faktor nicht ganz so hoch wie in Deutschland oder gar in den USA, aber insgesamt entsteht dadurch Ungleichheit. Der durchschnittliche Uni-Absolvent in den USA verdiente 1982 noch das 1,5-Fache eines Schulabsolventen, 2005 erhielt er bereits das Doppelte.

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Woher kommt diese Entwicklung?

Es wird sie überraschen, aber der größte Einflussfaktor in den Industriestaaten war die sinkende Zahl von Studenten in der Mitte der Siebzigerjahre. Daraus resultierte ein Mangel an gut ausgebildeten Arbeitskräften in den frühen Achtzigerjahren - nicht aus einer steigenden Nachfrage, wie viele glauben. Und deshalb verdienen Akademiker heute viel mehr als früher.

Lässt sich dieser Trend umkehren?

Theoretisch gibt wachsende Ungleichheit sogar Anreize, hart zu arbeiten. Als Dauerzustand aber wird sie zum Problem, weil keine soziale Mobilität durch Bildung mehr möglich ist. Wir erleben, dass wohlhabende Familien in ihren Nachwuchs investieren können, ärmere Familien nicht. Wenn nun ein mittelmäßig talentiertes Kind aus wohlhabendem Haus es schafft, nicht aber ein überdurchschnittlich begabtes Kind aus weniger stabilen Verhältnissen, dann ist das nicht nur undemokratisch, sondern aus ökonomischer Sicht auch ineffizient. Ungleichheit ist nicht schädlich, ungleiche Chancen schon.

Brauchen wir also mehr Studenten?

Wir brauchen exzellente Vorschul- und Schulbildung. Chancengleichheit entscheidet sich in jeder Generation am Zugang zu guten Schulen. Ein Ziel sollte sein, 50 Prozent der Schulabgänger in höhere Fachausbildungen und darüber hinaus zu bringen. Aber "Uni für alle" ist keine gute Idee, entscheidend sind schlaue Investitionen in mittlere Jobs. In den USA sind in der Medizin inzwischen viele technische Positionen wie Röntgentechniker oder Phlebologen, die Blut entnehmen, entstanden. Sie sind spezialisiert, brauchen aber kein Studium. Deutschland bietet eine gute Berufsausbildung jenseits der Universität an.

Ist Europa besser gewappnet, die Ungleichheit unter den "99 Prozent" zu besiegen?

Der Norden des Kontinents war bislang am erfolgreichsten darin, den Bürgern gute Bildung zu geben und angemessen in soziale Unterstützung zu investieren - also das Vermögen umzuverteilen, ohne die Reichen für ihren Wohlstand zu bestrafen. Trotz der stärker werdenden Ungleichheit haben sie einen Mindestlevel an Chancengleichheit gewährleistet. Singapur hat vieles richtig gemacht, auch Deutschland. Die USA haben meiner Meinung nach nicht genug in ihre Bevölkerung investiert.

Haben die amerikanischen Präsidentschaftskandidaten die richtigen Lösungen?

Nun, sie haben das Problem verstanden: Sie gehen auf die Unsicherheit der arbeitenden Bevölkerung ein, deren Sorgen sich um die Ausbildung ihrer Kinder und das eigene Leben in einer weniger berechenbaren Arbeitswelt drehen, in der es kein Gefühl von Sicherheit mehr gibt. Aber die Antworten darauf gehen weit auseinander. Donald Trump und andere machen Einwanderer verantwortlich, die Republikaner geben generell der Regierung die Schuld. Bei den Demokraten verspricht Hillary Clinton institutionelle Verbesserungen in einigen Bereichen, Bernie Sanders schwebt eher ein skandinavisches Modell vor. Die Diagnose ist also ähnlich, aber die Lösungen sind sehr unterschiedlich.

© SZ vom 23.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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