Nürnberger Industriegeschichte:Theater des Lebens

Lesezeit: 4 min

Mahmut Bayrak hat für AEG Spülmaschinen montiert, bis das Werk geschlossen wurde. Jetzt schreibt er seine Erlebnisse auf, um sie später auf die Bühne zu bringen.

Uwe Ritzer

Der Chor der Arbeiter zischt und brummt, er macht "plopp-plopp" und "klack-klack". Alle Geräusche fügen sich zu einem stimmigen Ganzen. Einer Waschmaschine.

Trotz starker Proteste wurde das AEG-Hausgerätewerk in Nürnberg Ende 2007 geschlossen. (Foto: Foto: dpa)

Die Monteure am imaginären Fließband fuchteln mit den Armen, ihre Hände drehen Schrauben und bauen Einzelteile ein, die es gar nicht gibt. Tatsächlich hat sich ihre Arbeit voriges Jahr in Luft aufgelöst. Nach einem spektakulären Arbeitskampf wurde das AEG-Hausgerätewerk in Nürnberg geschlossen, in dem sie mit 1700 Kollegen Waschmaschinen, Geschirrspüler und Wäschetrockner gebaut haben, manche mehr als ihr halbes Leben lang.

Auch Mahmut Bayrak steckt nur noch unsichtbare Geschirrkörbe zusammen und setzt sie in fiktive Spülmaschinen ein. Manchmal fasst sich Bayrak kurz an den Rücken, wo die realen 22 Jahre Arbeit schmerzen, die er jetzt nachspielen soll.

Kein Betroffenheitstheater

Mit seinem schneeweißen Pagenkopf und dem Schnauzbart erinnert der Türke mit der markanten Brille an den Kinderbuchautor Janosch. Als Bayrak gehört hat, dass ehemalige AEG-Mitarbeiter gesucht werden, die ihre Erlebnisse aufschreiben und sie später gemeinsam mit professionellen Staatsschauspielern auf die Bühne bringen, hat er nicht lange überlegt. "Ich habe sofort entschieden, dass ich mitmache", sagt er.

"Wir haben bei AEG geweint und gelacht, warum nicht auch auf der Bühne?", fragt Tina Geißinger, 33 Jahre jung und Regisseurin am bayerischen Staatstheater in Nürnberg.

Sie leitet ein Projekt, für das die Buchstabenkombination AEG neu definiert wurde: ArbeitsEndeGestern. Es gehe ihr ganz bestimmt nicht um Betroffenheitstheater. "Das wäre das Letzte, was gut wäre für dieses Thema und die beteiligten Leute", sagt die Frau mit der rotblonden Kurzhaarfrisur. Vielmehr wolle sie Fragen aufwerfen, die sich jeder stellen sollte: Wie wichtig ist Arbeit für den Menschen? Wie hoch ist ihr Stellenwert im Leben? Wie viel Identität stiftet sie? Wie fühlt sich, wer mit der Arbeit auch die gesellschaftliche Anerkennung verloren hat?

"Wir wollen nicht nur zurückblicken, sondern auch zeigen, was jetzt ist", sagt Geißinger. In der Gegenwart ist Mahmut Bayrak 57 Jahre alt, gesundheitlich angeschlagen und seit der Schließung des AEG-Werkes vor mehr als einem Jahr arbeitslos.

Zufrieden und stolz

Arbeitslosigkeit auf deutschen Theaterbühnen zu thematisieren ist modisch. Renommierte Gegenwartsdramatiker wie Moritz Rinke oder Roland Schimmelpfenning nahmen sich ihrer an.

"Wir wollten aber von Anfang an nicht über, sondern mit den von Arbeitslosigkeit Betroffenen arbeiten", sagt Geißinger. Menschen also, die nicht nur reflektieren, sondern eigenes Erleben mitbringen. Kann man wirklich an monotoner Fabrikarbeit hängen? Natürlich, sagen Mahmut Bayrak und seine Mitspieler. Ihrer Bühnenpantomime nach waren sie menschliche Zwischenglieder einer ansonsten automatisierten Produktionsmaschine.

Gerade weil ihre Arbeit so einfach war, hat der AEG-Mutterkonzern Electrolux sie nach Polen verlagert, wo die Arbeiter billiger sind als in Nürnberg. Aber ihnen habe die Arbeit etwas gegeben, sagen Bayrak und die anderen Theaterspieler. Viel hätten sie gelacht und miteinander geredet, während die Hände automatisch funktionierten. Außerdem sei die Bezahlung top gewesen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Mitarbeiter im Winter 2006 um ihren Standort kämpften.

"Und man war zufrieden und stolz, wenn am Ende ein schönes Gerät herausgekommen ist", sagt Mahmut Bayrak. Der Probenraum des Staatstheaters in der grauen Lagerhalle C 3 ist Teil des alten Werksgeländes von Triumph-Adler. Wo heute in einem Gewerbepark viel kleinere Unternehmen Büros unterhalten und Bildungsträger Schulungsräume, wurden einst Schreibmaschinen hergestellt. Triumph-Adler gibt es in Nürnberg noch, genauso wie AEG. Aber beide sind nur mehr ein Schatten ihrer selbst.

Mahmut Bayrak erzählt von seinem ersten Arbeitstag bei AEG. 1985 war der, und er, der bis dahin in einer türkischen Bauverwaltung am Schreibtisch saß, hatte am Abend blutige Finger von der ungewohnten körperlichen Arbeit.

"Aber was will man machen", sagt Bayrak. "Wir hatten Familie mit drei Kindern." Auch seine Frau Sekine hat bei AEG gearbeitet, länger sogar als er. Mahmut Bayrak hat sich durchgebissen. Er trat auch in die IG Metall ein, und seine Kollegen wählten ihn über viele Jahre immer wieder zu einem ihrer Vertrauensleute.

Natürlich stand auch er beim Arbeitskampf im kalten Winter 2006 an den Feuertonnen und riegelte das Werk mit ab. Als dessen Rettung fehlschlug, gehörte er zu denen, die in der Tarifkommission der Gewerkschaft den Sozialtarifvertrag berieten, der den 1700 Werksangehörigen zumindest großzügige Abfindungen garantierte.

Von alledem hat Mahmut Bayrak vieles erzählt und aufgeschrieben. Wie ein gutes Dutzend anderer Ex-AEG-Mitarbeiter auch, die sich bis zur Sommerpause einmal wöchentlich zur Schreibwerkstatt trafen. "Ich lerne jetzt Schriftsteller", sagt Bayrak und lacht schelmisch.

Forum für Anekdoten

Die Tübinger Schriftstellerin Sandra Hoffmann ("Liebesgut") leitete die Männer und Frauen an, die von sich und ihrem alten Leben schreiben. Einen dicken Aktenordner füllen die Texte, hinzu kommen aufgenommene Interviews mit anderen Betroffenen.

Im Internettagebuch zum Theaterprojekt schreibt Tina Geißinger über einen jungen Mann, der freudestrahlend gesagt habe, ihm habe nichts Besseres passieren können, als der Arbeitsplatzverlust und die Pleite bei AEG. Denn dadurch habe er gelernt, für sich selbst zu sorgen und habe sich selbständig gemacht.

Er dürfte die Ausnahme sein. Viele verklären heute zweifellos ihr früheres Arbeitsleben bei AEG, viele sind im Leben danach noch nicht angekommen. Karl-Heinz Bienek, zum Beispiel, ein Industriekaufmann, der seit seiner Entlassung nach 34 AEG-Jahren 130 vergebliche Bewerbungen geschrieben hat.

Oder Siheyla Türk, 42, und ihre Freundin Eveline Paegle, 54. Früher arbeiteten sie in der Fertigungssteuerung, jetzt wundern sie sich über die euphorischen Zeitungsberichte über Vollbeschäftigung und Wirtschaftswachstum, denn von alledem spüren sie nichts.

"Wir wollen den Leuten ein Forum bieten, ihre Geschichten zu erzählen", sagt Regisseurin Geißinger. "Das klingt sozialpädagogisch, ist aber künstlerisch gemeint." Zum Probennachmittag sind auch zwei Frauen gekommen, die noch bei der AEG-Mutter Electrolux arbeiten, die in Nürnberg nach wie vor ihre Deutschlandzentrale hat.

Eine erzählt, sie habe geweint, als man die Buchstaben AEG achtlos und brutal von einer Fabrikhalle neben ihrem Bürofenster gerissen habe. Und zu Hause habe sie den Schriftzug "Electrolux" auf ihrer Spülmaschine demonstrativ mit Silberpapier überklebt. Solche Geschichten würde man keinem Dramaturgen glauben.

© SZ vom 09./10.08.2008/jpm/mel - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: