Neuer Markt:Herdentiere

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Vor 20 Jahren wurde der Index Nemax-50 gegründet. Er ist Symbol der bisher größten Blase in Deutschland. Ein Rückblick auf eine Zeit, in der viele verrücktspielten.

Von Harald Freiberger und Victor Gojdka, München

Christian Hanss hat die Schlagzeile ausgeschnitten. Es war der 22. Februar 2000, als Bild titelte: "Geld-Rausch." Darunter etwas kleiner: "Deutsche reden nur noch über Aktien-Tipps", "Frauen spekulieren mit dem Haushaltsgeld", "Ein Lehrer fragt: Warum soll ich noch arbeiten?" Dann aber auch: "Erste Banken warnen."

Christian Hanss war damals Anfang 30 und saß im Zentrum des Wahnsinns. Er war der Aktienexperte der Stadtsparkasse München, schrieb Newsletter, beriet die Berater in den Filialen. Wenn irgendwo ein Kunde etwas über eine Aktie wissen wollte, landete die Anfrage bei ihm. Und es gab viele Fragen in dieser Zeit. Denn alle redeten nur noch über Aktien.

Jetzt sitzt Hanss vor einem Bierlokal in der Nähe der Münchner Oper und sagt: "Man kann sich das heute nicht mehr vorstellen." Anlass für das Gespräch ist der 20. Geburtstag des Nemax-50, des Index für den Neuen Markt, der die Technologieaktien vereinte (siehe Kasten). Damit begann der letzte Akt einer Börsenrally, wie es sie vorher und seither in Deutschland nicht mehr gegeben hat. Der Satz "Erste Banken warnen" deutete es schon an, und genauso kam es: 19 Tage später, am 10. März 2000, erreichte der Nemax-50 seinen Höchststand, dann platzte die Blase. Mehr als drei Jahre ging es abwärts, am Ende hatten Millionen Anleger in Deutschland Milliarden an Euro verloren.

Thomas Haffa, ehemaliger Chef des Medienunternehmens EM.TV, erlebte am Börsensegment Neuer Markt einen ebenso spektakulärem Aufstieg wie einen tiefen Fall. (Foto: Frank_Leonhardt / picture-alliance / dpa)

Nach 20 Jahren ist es auch eine Generationenfrage. Unter den Über-45-Jährigen gibt es nicht viele, die davon nicht betroffen gewesen wären. Jüngere aber fragen sich, wie es dazu kommen konnte. Aufstieg und Fall des Neuen Marktes sind ein Lehrstück für die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften, aber auch ein Fall für die Sozial- und Massenpsychologie: Der Mensch ist ein soziales Wesen mit einem Hang zum Herdentrieb, in extremen Situationen schaltet sich sein Verstand aus.

Die Volksaktie der Telekom stieg auf bis zu 100 Euro. Damit waren die Deutschen angefixt

Den Startschuss gab im Herbst 1996 der Börsengang des Staatskonzerns Deutsche Telekom. Die T-Aktie wurde als Volksaktie vermarktet, Schauspieler Manfred Krug, "Liebling" der Fernsehzuschauer, trommelte in TV-Spots dafür. Millionen Deutsche erlebten den Kursanstieg von 14 auf bis zu 100 Euro, damit waren sie angefixt. Zur Telekom-Liberalisierung kamen weitere bahnbrechende Innovationen, an erster Stelle das Internet, aber auch Biotechnologie oder neue Medien. Die Möglichkeiten schienen grenzenlos, alte Bewertungsmaßstäbe für Aktien galten nichts mehr. Deshalb kam es vielen lange nicht komisch vor, dass sich die Blase immer weiter aufblies. Alle trugen dazu bei: Unternehmen, die ihre Chance witterten, an der Börse das große Geld einzusammeln, Banken und Analysten, die sie wohlwollend beurteilten, dubiose Verfasser von Börsenbriefen - und die Anleger, die ebenfalls hofften, das große Geld zu machen.

Hunderte Firmen mit Namensbestandteilen wie "tech", "bio", "inter" oder "media" gingen an die Börse. Der Graumarkt zeigte vorher oft an, dass sich ein Kurs verfünf- oder verzehnfachen wird, weil die Aktie von so vielen Anlegern blind gezeichnet worden war. "Es gab wirklich Leute, die dachten, Infineon stelle halbe Leitern her", sagt Sparkassen-Mann Hanss. Einmal kam eine Kundin an den Schalter, legte 28 Mark auf den Tisch und sagte, sie wolle das Papier von Manfred Krug. Die Anleger hätten teils nicht gewusst, in welche Unternehmen sie investierten, sie achteten nicht auf die Depotstruktur und hinterfragten nicht, welche Risiken sie eingehen wollten.

Analysen von Direktbanken zeigten später, dass in den Depots durchschnittlich sieben einzelne Aktien lagen, fast alle aus dem Tech-Bereich. Keine Streuung, null Verteilung des Risikos auf Branchen und Regionen - auch deshalb traf es die Deutschen so hart, als alles zusammenkrachte.

Ein findiger Geschäftsmann im schleswig-holsteinischen Örtchen Büdelsdorf wurde zum Gesicht des Neuen Marktes. Mit der Billigvorwahl 01019 griff Gerhard Schmid die Telekom an, in Magazinen hieß er "Internet-König" oder "Bill Gates Deutschlands". Schmid verkaufte erst Handys, dann Handyverträge, mischte im Festnetzmarkt mit und griff auch im Internet an. Der Slogan des Mobilcom-Chefs: eins, zwei, drei, vier. "Wir wollen Nummer eins beim Kundenservice sein, den Umsatz verdoppeln, den Gewinn verdreifachen, und zwar in jedem vierten Jahr."

Viele Bundesbürger wollen seit dem Crash nichts mehr von Aktien wissen

Als der Neue Markt einbrach, taumelte auch die Mobilcom-Aktie. Das Unternehmen hatte für Milliarden eine UMTS-Mobilfunklizenz ersteigert und sich damit übernommen. Der Geschäftspartner France Télécom ging auf Konfrontation. Beide Seiten überhäuften sich mit Vorwürfen, am Ende war kaum mehr klar, wer hier wen übertölpelt hatte.

Als Schmid im vergangenen Jahr im Gespräch auf das Geschehen von damals zurückblickte, wollte er von all dem nichts wissen. Zockerei? Das habe es bei Mobilcom nicht gegeben. Tausende hätten im Neuen Markt richtig Geld gemacht, die anderen hätten eben nicht auf die Börsenpropheten im Fernsehen hören sollen. Am Ende habe France Télécom Mobilcom die Probleme eingebrockt. So sieht Schmid es.

Unzählige Firmen mit windigem Geschäftsmodell gingen Pleite. Der Neue Markt zog auch Betrüger an. Bodo Schnabel hatte mit seiner Firma Comroad Milliarden-Umsätze freiweg erfunden. Den größten Hype verursachten die Brüder Haffa mit ihrer Medienrechte-Firma EM.TV, deren Aktienkurs um mehr als 90 Prozent abstürzte. Am Ende wurden sie vom Gericht verurteilt.

Michael Mundenbruch, 51, hat die verrückte Zeit aus der Nähe erlebt. Er arbeitete bei einer Technik-Tochter der Allianz und bekam Mitarbeiter-Aktien, ab 1997 kaufte er immer mehr Technologie-Aktien: Cisco, Microsoft, Dell, auch EM.TV. "Ich bin ein Kind dieser Zeit", sagt er. Heute ist er als Berater selbständig. "Wir haben damals in der Arbeit ständig über Aktien geredet, Charts beobachtet, Börsengänge analysiert", erinnert er sich. Weil er sich mit Technik auskannte, sei er auf viele Firmen nicht reingefallen, "aber natürlich habe ich auch geblutet". Die Nachfolgefirma von EM.TV, Constantin, habe er immer noch im Depot, mit einem Verlust von zwei Drittel. Abschrecken aber ließ er sich nicht: Er hat heute gut 100 einzelne Aktien im Depot, viele mit sehr guter Bilanz, das ist seine Altersvorsorge. "Es lohnt sich oft, geduldig zu bleiben, Aktien sind etwas Langfristiges", sagt Mundenbruch.

Viele Bundesbürger aber wollen seitdem nichts mehr von Aktien wissen. Besonders fatal war, dass sich der Kurs der Volksaktie Telekom nie mehr erholte. "Der Zusammenbruch des Neuen Marktes war für viele ein traumatisches Erlebnis", sagt Mundenbruch. Er traf vor ein paar Jahren einen Ex-Kollegen, der am Neuen Markt viel Geld verloren hatte. "Er sagte mir, dass er noch abwartet, bis er wieder auf seinem Einstandsgeld ist und dann alles verkauft." Das sei typisch deutsch, man wolle kein Geld verlieren, gehe kein Risiko ein und lasse deshalb die Chancen verstreichen - seit 2008 boomen Aktien fast ununterbrochen.

Das findet Mundenbruch schade, deshalb engagiert er sich auch im Münchner Aktienclub: "Ich ermuntere die Leute immer, antizyklisch zu handeln", sagt er. Wenn die Stimmung am Boden sei und alle meinen, die Welt gehe unter - dann sei es die richtige Zeit für Aktien. Wenn aber alle mit der Herde in eine Richtung rennen, müsse man sich raushalten. Ein guter Indikator wäre die Bild-Schlagzeile gewesen, die sich Christian Hanss aufgehoben hat.

© SZ vom 01.07.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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