Nahaufnahme:Plötzlich gesprächig

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"Wir müssen an die Börse!" Evan Spiegel. (Foto: AP)

Snapchat-Gründer Evan Spiegel will möglichst bald an die Börse - deshalb redet jetzt der 25-Jährige, der bisher immer schwieg.

Von Jürgen Schmieder

Es ist eine der gewaltigsten Fehlinformationen über das Silicon Valley, dass die Gedanken dort frei herumschwirren würden. Es ist vielmehr so, dass sie vorbeifliegen wie nächtliche Schatten und kein Mensch sie wissen kann. Wer die Gedanken anderer nämlich errät, der kann sie kopieren und für sein eigenes Unternehmen nutzen - was oftmals dazu führt, dass ein prächtiger Gedanke nur selten das Gehirn seines Schöpfers verlässt. Oder anders ausgedrückt: Die Bewohner dieses Tals in Nordkalifornien haben stets Angst, dass ihnen jemand diesen Gedanken klauen und sie damit erschießen könnte.

Evan Spiegel ist so ein Bewohner des Silicon Valley, er feiert am Donnerstag seinen 25. Geburtstag und hält grundsätzlich nicht mehr besonders viel von frei fliegenden Gedanken. Vor vier Jahren hatte er als Student der Stanford University gemeinsam mit Reggie Brown die Idee gehabt, dass eine Applikation für Nachrichten, die direkt nach dem Betrachten vom Gerät des Empfängers gelöscht werden, eine interessante Sache sein könnten. Er ließ seine Gedanken im Hörsaal fliegen, wahrscheinlich waren es eher die Gedanken von Brown. Der nämlich verklagte Spiegel später und wird mittlerweile als der Mann mit der Idee für die verschwindenden Bilder geführt. Spiegel wurde damals von den Kommilitonen verlacht, er ließ sich jedoch nicht beirren, sondern bastelte mit seinem Kollegen Bobby Murphy weiter und veröffentlichte ein Jahr später Snapchat. Mittlerweile nutzen mehr als 60 Prozent aller Amerikaner zwischen 13 und 34 Jahren den Dienst für Bilder, Videos und Kurznachrichten.

Diese Zahl übrigens stammt von Spiegel selbst, der bis vor Kurzem bei öffentlichen Auftritten versuchte, seinen Mund möglichst lange geschlossen zu halten. Überhaupt bastelte er lieber im Hauptquartier in Venice Beach an seinem Projekt als sich mit Journalisten und Analysten über seine Pläne zu unterhalten. "Ich arbeite eben", sagte er kürzlich: "Die Scheiße ist hart." Das Schweigen ist auch damit zu begründen, dass in der Vergangenheit immer wieder E-Mails von Spiegel veröffentlicht wurden - zuletzt waren es Nachrichten an Sony-Entertainment-Chef Michael Lynton während des Hackerangriffs auf Sony.

Nun aber sprach Spiegel auf einer Konferenz in Rancho Palos Verdes im Süden von Los Angeles erstaunlich offen über sein Unternehmen und auch über die Pläne für die Zukunft. "Meine Aufgabe besteht nun darin, dass das Unternehmen so schnell wie nur menschenmöglich wächst", sagte er. "Wir müssen an die Börse!" Einen Zeitplan für den Börsengang nannte er nicht.

Zu dieser Aussage passt, dass das Unternehmen ein 23 Seiten starkes Exposé an Werbetreibende verschickt hat. Darin stehen Zahlen wie etwa die, dass die mehr als 100 Millionen Nutzer derzeit zwei Milliarden Videos pro Tag betrachten. Das typische Snapchat-Mitglied hört sich diesen Zahlen zufolge an wie der wahr gewordene Traum eines Marktforschers: jung, technikaffin, andauernd bei Snapchat. Kein Wunder also, dass dieses Unternehmen mit gerade einmal 330 Mitarbeitern bei einer neuerlichen Investorenrunde in der vergangenen Woche insgesamt 538 Millionen US-Dollar eingesammelt hat und damit derzeit mit mehr als 15 Milliarden Dollar bewertet wird.

Spiegel trifft sich plötzlich mit Journalisten, er spricht für seine Verhältnisse recht offen über sein Unternehmen, er veröffentlicht die wichtigen Zahlen in einem Büchlein für Werbetreibende. Das alles sagt nicht nur etwas aus über den Snapchat-Chef, sondern über die Menschen in dieser Branche allgemein: Die Gedanken im Silicon Valley sind nur dann frei, wenn jemand in Aussicht stellt, sehr viel Geld dafür zu bezahlen.

© SZ vom 03.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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