Mediziner im Streik:Warum die Ärzte ihr Ansehen aufs Spiel setzen

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Wer als Kassenarzt schlecht verdient, hat am Ende des Jahres immer noch deutlich mehr auf dem Konto als die allermeisten Menschen in der Bundesrepublik. Trotzdem halten sich die Ärzte für notorisch unterbezahlt - und wollen nun ihre Praxen bestreiken. Diese Revoluzzer-Pose ist grotesk. Dabei hätten die Ärzte auch gute Argumente.

Guido Bohsem

Deutschlands Ärzte sind ein Rätsel, ein real existierendes Paradoxon, ein wandelnder Widerspruch. An diesem Donnerstag haben sie beschlossen, in einen großen Streik zu ziehen. Von den Bürgern wird das kaum jemand verstehen. Denn die jammernden Klagen der Ärzteschaft widersprechen der Lebenserfahrung der Leute und ihrer Alltagsweisheit.

Ärzte genießen das höchste Ansehen aller Berufsgruppen, und dennoch fühlen sie sich diffamiert. Wer eine Praxis führt, gilt seinen Patienten als Heiler, als rettender Anker, als Autorität - die Mediziner aber beklagen ihre verlorene Würde. Wer als Kassenarzt schlecht verdient, hat am Ende des Jahres immer noch deutlich mehr auf dem Konto als die allermeisten Menschen in der Bundesrepublik. Trotzdem halten sich die Ärzte für notorisch unterbezahlt. Sie fühlen sich geschurigelt, diskriminiert, ausgebeutet, geringgeschätzt, in ihrer Ehre beschnitten und verleumdet. Sie sehen sich diskreditiert, mit Schmutz beworfen und angefeindet.

Was ist da los? Man könnte meinen, dass ein ganzer Berufsstand an Bewusstseinsspaltung leidet. Doch das ist nicht der Fall. Die verworrene Stimmungslage hat wenig mit den Ärzten selbst und viel mit ihren gewählten Vertretern zu tun. Es sind vor allem die Funktionäre, die das Underdog-Bildnis des niedergelassenen Mediziners beharrlich und unbeirrt pflegen.

Der Arzt als Knecht? Die Realität ist anders

Ihre Pose erinnert an Thomas Müntzer. Wie der Thüringer Bauernführer und Reformator vor 500 Jahren zum Kampf gegen die Obrigkeit aufrief, rufen sie eine angeblich ausgebeutete Ärzteschaft zum Aufstand. Sie schlagen die Trommeln der Revolution gegen die finsteren Machthaber und Ärzte-Knechter und meinen damit den amtierenden Gesundheitsminister oder die Krankenkassen. Der Arzt als Knecht - in ihren Versammlungen, den Ärzte-Zeitungen und auf zahllosen Internetseiten konstruieren die Funktionäre dieses Zerrbild immer wieder aufs Neue.

Die Realität in der Ärzteschaft sieht anders aus: 93 Prozent der Ärzte haben Spaß an der Arbeit, 90 Prozent - und das ist deutlich mehr als in anderen Berufsgruppen - sind mit ihr zufrieden, 79 Prozent finden sie sogar inspirierend. 72 Prozent würden den Beruf wieder ergreifen und schließlich: 56 Prozent sind mit ihrem Einkommen zufrieden, was übrigens genau dem Durchschnitt aller anderen Berufsgruppen entspricht.

Diese Zahlen stammen nicht aus einem Gefälligkeitsgutachten für die AOK, sondern aus einer Erhebung im Auftrag der Ärzteschaft ( PDF hier). Man kann daraus nur einen einzigen Schluss ziehen. Die schweigende Mehrheit der Ärzte ist selbstbewusst, zufrieden, ja sogar glücklich bei der Behandlung ihrer Patienten. Würde man sie Knechte nennen, sie wären zu Recht beleidigt.

Den Ton in der Ärzteschaft aber gibt eine ebenso aktive wie radikale Minderheit an. Diese sucht und wählt sich ihre Funktionäre, und die treten dann eben auch radikal auf. Doch führt die ebenso übertriebene wie routiniert dargebrachte Revoluzzer-Pose zu einem großen Problem: Sie mutet derart grotesk und lebensfremd an, dass man sie leicht abtun kann. Dabei gehen dann leider auch die wirklich berechtigten Forderungen der Ärzteschaft unter.

So verfügen die Ärzte im aktuellen Honorarstreit über durchaus gute Argumente. Die beschlossene Honorar-Steigerung von 0,9 Prozent ist tatsächlich wenig angesichts der hohen Tarifabschlüsse in anderen Branchen. Dabei spielt auch keine Rolle, wie viel die Ärzte schon jetzt verdienen. Denn selbstverständlich muss es auch für Gutverdiener Gehaltsverbesserungen geben. Klar ist auch, dass die magere Erhöhung insbesondere deshalb Frust weckt, weil das Gesundheitssystem derzeit regelrecht in Geld schwimmt.

Aus zwei guten Gründen kann man das Ergebnis aber auch für fair halten. Zum einen haben die Ärzte ihr Gehalt in den vergangenen fünf Jahren deutlich steigern können - selbst im Jahr der schwersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik. Zum anderen handelt es sich nur um die erste Runde der Verhandlungen. In der zweiten und dritten wird noch einiges an Geld hinzukommen.

Natürlich haben die Ärzte wie jede andere Berufsgruppe das gute Recht, ihre Interessen zu vertreten. Gelingen kann ihnen das nur, wenn sie die Politik unter Druck setzen; und das gelingt nur, wenn sie die Bevölkerung für ihre Sache gewinnen können. Schaffen es die Mediziner nicht, die Leute auf ihre Seite zu ziehen, werden sie sich nicht durchsetzen, werden die Proteste und Praxisschließungen nur zu Unverständnis und Ärger führen. Dann könnte wirklich wahr werden, was die Ärztefunktionäre bislang nur so lautstark beklagen. Dann könnte das gute Ansehen der Ärzte verloren gehen.

© SZ vom 12.09.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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