Neviges (dpa) - Die Welt des Norbert Molitor umfasst nur wenige Straßen.
Es ist das überschaubare Zentrum des Ortes Neviges, eines Stadtteils von Velbert bei Düsseldorf. Aus diesen paar Straßen holt Molitor ziemlich viel raus. So viel, dass er diesen Sommer für sein Blog „42553 Neviges“ mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet wurde.
Molitor wirkte bei der Preisverleihung in Köln wie ein Fremdkörper, denn im Onlinegeschäft dominieren die jungen Coolen. Molitor ist weder jung noch cool, sondern 68 Jahre alt und von der äußeren Erscheinung her ein wenig struppig. Er ist das Gegenteil eines „digital native“, der mit Internet und Smartphone aufgewachsen ist. Sowohl als Fotograf wie auch als Texter und Webdesigner ist er Amateur - von Beruf gestaltete er Messestände. Jetzt ist er Rentner. Und doch halten viele sein Blog für das Originellste, was in diesem Jahr mit dem Bloggerpreis ausgezeichnet wurde.
Angefangen hat er mit alledem nur, weil er sich angewöhnt hatte, auf seiner täglichen Runde durch den Ort zu fotografieren. Diese Bilder - alle schwarz-weiß - wollte er irgendwo zeigen. Also richtete er sich seine eigene Website ein und benannte sie nach dem Namen seines Heimatortes und dessen Postleitzahl. Irgendwie altmodisch, aber es sollte ja auch keine große Sache sein. Bald begann er, kurze Beschreibungen zu den Bildern zu verfassen.
„Der Ort ist mittwochnachmittags und an allen anderen Tagen ab 18.30 Uhr geschlossen“, liest man bei ihm. Tatsächlich wirkt Neviges auch an einem Montagmittag schon fast wie geschlossen. Von den knapp 20 000 Einwohnern ist kaum einer zu sehen. Es gibt hier kein Kino und nur ein einziges Hotel. Einmal hat Molitor eine Gruppe von Vietnamesen getroffen und sie gefragt, was sie ausgerechnet nach Neviges verschlagen habe. Die Antwort: „Wir haben im Internet nach einem Ort gesucht, wo nix los ist.“
Dennoch verfolgen Menschen aus ganz Deutschland und sogar im Ausland, was sich in Neviges tut. Denn Norbert Molitor hat einen ganz besonderen Blick für die kleinen Dinge des Alltags: eine Katze, die im Schornstein Mäuse fängt; das „Nevigeser Herrengedeck“ aus einer Scheibe Schwarzbrot und einem riesigen Butterklotz; der „Eselflüsterer“ des Ortes; das Wasserschloss, das seit zehn Jahren restauriert wird - kein Ende abzusehen. „Vor kurzem hatte ich Besuch von einem Bekannten aus Spanien. Der konnte mir die Stadt zeigen, ohne vorher dagewesen zu sein.“
Doch das Blog ist nicht nur unterhaltsam, es ist kritisch. Zu Beginn der Ferien schrieb Molitor zum Beispiel: „Viele Einwohner können sich keine Urlaubsreise leisten, weil es in 42553 Neviges kaum richtige Jobs gibt. Der Einzelhandel hat keine, die Gastronomie hat keine, die Stadt schließt eher irgendwas, bevor jemand eingestellt wird.“ Seine Einträge bilden zusammen die Chronik einer Verödung durch Wegzug und Abwanderung von Einzelhandelskunden ins Internet.
Dieser kritische Blick kommt nicht bei allen gut an. Zwei Strafanzeigen wegen Rufschädigung gab es schon gegen ihn, ein Mann drohte ihm mit einem Messer. Aber seit er den Grimme Online Award bekommen hat, ist seine Arbeit einfacher geworden. „Ich werde jetzt plötzlich viel stärker akzeptiert“, wundert er sich. „Dass der Preis so wichtig ist, hätte ich nie gedacht.“ Er hat jetzt am Tag etwa 500 Besucher auf seiner Seite.
Mittlerweile kommen sogar Leute zu ihm und bitten ihn, über Missstände wie verwahrloste Grünflächen oder den geplanten Abriss und Neubau eines Brunnens für einen sechsstelligen Betrag zu berichten. „Ich erlebe sogar, dass ich Kleinigkeiten bewege.“ Eben darum geht es ihm. Er will nicht berühmt werden: „Ich wünsche mir nur, dass mein Blog angenommen wird, hier in Neviges. Es sind die Nevigeser, für die ich es mache.“
Wenn man mit Molitor durch den Ort schlendert, merkt man schnell: Der kennt hier jeden. Schon seit langem versucht er, alles, was er braucht, vor der Haustür zu kaufen. Wenn er jemandem ein Buch schenken will und nicht sicher ist, was der gern liest, fragt er den örtlichen Buchhändler - der weiß es mit Sicherheit. Seine Kleidung stammt aus dem Second-Hand-Shop: „Hose zwei Euro, Hemd drei Euro.“ Sein Lieblingsplatz ist ein kleines, von einer türkischen Familie betriebenes Café.
Zum Fremdenführer wird er, wenn er den Nevigeser Wallfahrtsdom zeigt, eine gewaltige Betonkirche aus den 70er Jahren. Von außen eine Zumutung, von innen eine Offenbarung. Molitor schwärmt davon, wie sich hier die Pilger aus Kroatien und Schlesien in Trachten versammeln und hingebungsvoll beten: „Wie im Fellini-Film!“ Nein, er muss nicht verreisen. Er hat Neviges, sein wundervolles Kaff.