Lexikon der Krise:Das dreckige Dutzend

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Karton, Weltkrisengefahrenabwender, Treue: Welche Begriffe beschreiben die Finanzkrise am besten? Zwölf Irrwitzeleien zum Jahresende.

Bangster, der

Die Wirkung toxischer Finanzpapiere entspricht denen herkömmlicher Gefahrstoffe. So zeigen Vergiftungen als Initialsymptom nicht selten Bewusstseinseintrübungen, die von den Betroffenen als Rauschzustand wahrgenommen werden. (Foto: Grafik: sueddeutsche.de)

Wortballung aus Banker und Gangster, deren Berufsstände im Zuge der Finanzkrise fusioniert wurden. Charakterisiert Bankmitarbeiter, die mindestens zwei der drei folgenden Eigenschaften aufweisen: a) Gier b) Inkompetenz c) Skrupellosigkeit. Verheerend ist die Kombination aller drei Merkmale, die Schäden in Höhe von Billionen Euro verursachen und durch Kombination vieler Nullen das System ins Wanken bringen können. Billion, die

Zahlwort, dass für eine Eins mit zwölf Nullen steht. In Ziffern: 1.000.000.000.000. Bis in die Anfänge des dritten Jahrtausends eine im deutschen Sprachraum kaum genutzte Zahl: Ausnahmen: Astronomen und naseweise Kinder. Mittlerweile wird die Billion oft zur Bezifferung der von Bangstern angerichteten Schäden im System benötigt. (hgn)

Geiselnahme, die

Von französischen Arbeitnehmern gegen hochrangige Manager angewandte Maßnahme, um die Folgen der von Bangstern angerichteten Schäden abzumildern. Sie kommt vor allem dann zum Tragen, wenn die Treue der Belegschaft auf Arbeitgeberseite nicht erwidert wird. Eskalation der Geiselnahme ist die Revolution. (tob)

Gekniffene, der

Zahlt am Ende die Billionen für die stabile Seitenlage, damit das angezählte System nicht vollends kollabiert. Umgangssprachlich auch DvD (Depp vom Dienst) genannt. Abrechnung nicht direkt per Einkommensteuererklärungsbescheid ersichtlich, da abgeführte Zwangsabgaben über dunkle Kanäle in der Hauptstadt umgeleitet werden. Widerspruch fast immer zwecklos. Gift, das

Gefahrstoff, der vor allem bei Überschreitung von Grenzwerten zu schweren Beeinträchtigungen des Systems führen kann. Gifte finden sich nicht nur als organische und anorganische Verbindung, sondern auch als verhängnisvolle Kombination von Zahlen. Die Wirkung toxischer Finanzpapiere entspricht denen herkömmlicher Gefahrstoffe. So zeigen Vergiftungen als Initialsymptom nicht selten Bewusstseinseintrübungen, die von den Betroffenen als Rauschzustand wahrgenommen werden. In den letzten beiden Jahren hat ausgedehnter Giftkonsum in der Finanzszene viele zu Bankopathen gemacht. (hgn)

Inszenierung, die

Vor allem in der Theaterwelt genutztes Fachvokabular, auch Schauspiel. In jüngster Vergangenheit häufig schwankend zwischen Komödie (Opel) und Tragödie (Arcandor). Fast immer Spätvorstellungen, der Dramatik wegen. Beteiligte Protagonisten stammen meist aus der ersten Reihe (siehe Weltkrisengefahrenabwender). Steigerung von Inszenierung = Gipfel, oft und gerne im Kanzleramt zelebriert. Wichtig für jede Inszenierung sind die entsprechenden Fotos als Beweismaterial - selbst wenn die Protagonisten weit nach Mitternacht aussehen wie Zombies oder Bangster. Gelegentlich sind auch letztgenannte Teil der Inszenierung. Kasino, das

Sinnbild für die Haupt- und Lieblingsbeschäftigung von Bankern und Managern, mit hohen Einsätzen volles Risiko zu gehen. Im Erfolgsfall gibt es eine Belohnung in Form von Boni, die von den Gekniffenen als Gift betrachtet werden. Im Falle des Verlusts (vulgo: Pech im Spiel) werden die Spieler von der Liebe (oder auch Panik/Dummheit/Komplizenschaft) des Staates getröstet. Um die stabile Seitenlage des Systems nicht zu gefährden, erhalten die Banker und Manager eine Mahnung, beim nächsten Mal besser aufzupassen. Ernsthafte Sanktionen wusste die Lobby der Spieler bislang stets zu verhindern, weshalb der berühmte Kasino-Satz "Rien ne va plus" im Kapitalismus-Kasino auch in der Krise nicht zu hören ist. (mikö)

Karton, der

Steifpapier zum Verpacken und Wohnen. Kommt als labiles Behältnis vor allem dann zum Einsatz, wenn das System außer Kontrolle gerät. Großanwendung zuletzt nach dem Finanzbeben in New York im September 2008 im Bankhaus Lehman. Damals zur Rettung persönlicher Gegenstände, nachdem Bangster das Kasino gesprengt hatten. Bekannte Engpässe in Dubai 2009: Rigides Arbeitsrecht und fehlende Treue verursachten einen Exodus an Arbeitskräften, der zu Hamsterkäufen bei Umzugskartons führte. (hgn)

stabile Seitenlage, die

Zustand, in dem die Wirtschaft (oder auch das System) daniederliegen kann, ohne an den Folgen einer Kontamination durch Gift zu sterben. Die stabile Seitenlage wird von Weltkrisengefahrenabwendern beherrscht und mit fünf Schritten erreicht. Schritt 1: Hartnäckiges Leugnen der Gefahr, Beweis von Treue gegenüber den Wirtschaftstreibenden. Schritt 2: Anerkennung der Gefahr, ohne eigene Fehler einzugestehen. Stattdessen Verdammung des Kasinos und der Geiselnahme durch die Banker. Schritt 3: Erfinden von teuren Geschenken, die den Staatshaushalt auf Jahre ruinieren, dank unverdächtiger Namen aber begeistert angenommen werden. Beispiele: Umweltprämie, Wachstumsbeschleunigungsgesetz. Schritt 4: Ankündigung von Strafsteuern, falls die Wirtschaft die Geschenke nicht annimmt. Schritt 5: Falls sich kein Erfolg einstellt, Schritte zwei bis vier wiederholen. (mikö)

System, das

Gedankenkonstrukt zur Beschreibung der Bauteile der Gesellschaft. Nach dem Mitbegründer der Systemtheorie, Niklas Luhmann, grenzt sich ein System durch einen binären Code von seiner Umwelt ab. Im Falle der Wirtschaft war das einst der Code "zahlen/nicht zahlen". Die Auswirkungen des Kasino-Kapitalismus machten daraus den Code "pleite/nicht pleite", was Luhmann nicht mehr miterleben musste - der Soziologe starb 1998.

In der Politik wird das System immer dann bemüht, wenn es darum geht, eine Bank vor dem Kollaps zu retten, weil sie sonst zahlreiche andere Banken vergiften würde. Diese Bank wird dann als systemrelevant eingestuft, wobei die Relevanz auch darin liegt, dass die Politiker um ihre Wiederwahl fürchten müssten, wenn zu viele Bankangestellte ihre Kartons packen müssten. Unter dem System kann folglich auch die Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Politik verstanden werden. Um die systemrelevanten Banken und das ganze System in eine stabile Seitenlage zu bringen, greifen Weltkrisengefahrenabwender gerne zu Billionen an Staatshilfe.

Dass die Banken an ihrer Vergiftung womöglich selbst schuld sind, spielt dabei eine untergeordnete Rolle.

Treue, die

Haltung, die für Loyalität und Beständigkeit stehen soll und die in der Finanzkrise eine Aufwertung erfuhr. So reklamierten Unternehmen T. im Sinne dieser Definition für sich, wenn sie Mitarbeiter bei schwieriger Auftragslage nicht einfach kündigten, sondern ihnen die Chance zu Kurzarbeit geben. Auf T. im engeren Sinne konnten sich aber auch gekündigte Firmenchefs verlassen, da sie nach ihrem Abtritt in aller Regel noch großzügige Abfindungen einstrichen. (pak)

Weltkrisengefahrenabwender, der

Titel für Politiker, den sie sich a) selbst verleihen oder b) verdienen. Phänotypisch für Fall a) ist der ehemalige Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der im Streit um Staatshilfen für Opel eine geordnete Insolvenz als verträglicher für das System einstufte - und es anschließend als gerechtfertigt ansah, T-Shirts mit dem Schriftzug "Krisenbewältiger" zu tragen. Für Fall b) stehen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die als Mutter der Nation die stabile Seitenlage beherrscht und dank Abwrackprämie, Konjunkturpaketen und anderen Geschenken die Nation vor dem Schlimmsten bewahrte.

Der ehemalige Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) spielte den strengen Vater an ihrer Seite, der die Inszenierung des damaligen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) am Telefon lautstark verurteilte, als Scholz eine Rentengarantie ausgesprochen hatte. Als oberster Weltkrisengefahrenabwender wird oft US-Präsident Barack Obama genannt, der zur Rettung der amerikanischen Wirtschaft so viele Unternehmen verstaatlichte, dass Kubas Revolutionsführer Fidel Castro blass vor Neid wird. (mikö)

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