Landwirtschaft:600 Jahre Haft für die Agromafia

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Der Lago Maulazzo im Nationalpark Nebrodi. Ein schöner Flecken Erde, auf dem die Mafia ihr Unwesen treibt. (Foto: Rosario Patanè/Mauritius Images/Alamy Stock)

Die Clans bedrohen Bauern, töten ihr Vieh und schöpfen unrechtmäßig EU-Subventionen ab. Der Schaden geht in die Millionen. Nun fiel ein Urteil gegen die Mafia der Weiden auf Sizilien

Von Oliver Meiler, Rom

91 Verurteilte, 600 Jahre Haft. Wenn in Italien große Prozesse gegen die Mafia zu einem Verdikt gelangen, sind die Strafmaße fast immer exorbitant. So wie nun im Verfahren gegen die Mafia dei pascoli, die Mafia der Weiden aus dem Hinterland von Messina auf Sizilien. Zahlen, auf die man schaut, eigentlich. Die Zeitungen heben sie in fetten Buchstaben hervor, die Leser sollen verstehen: Der Staat reagiert, der Staat bestraft. Und das tut er ja auch. Die Frage ist nur, ob das auch ausreicht, um die Kartelle nachhaltig zu zerschlagen. Dem Kraken wachsen immer neue Arme nach.

Die Mafiosi haben viele Helfer: Anwälte, Notare, Politiker, Polizisten

91 Verurteilte, 600 Jahre Haft. Das spektakuläre Urteil des Tribunals von Patti ist erst die erste Instanz, es folgen noch zwei weitere Gerichtsbarkeiten, bevor es rechtskräftig ist. Doch es trifft eine Mafia, wie sie das große Publikum erst allmählich und vor allem durch solche Prozesse entdeckt. Eine moderne Mafia, die ihr Geld nicht nur mehr mit Drogen- und Waffenhandel macht, mit Erpressung und Prostitution, mit ihren üblichen Kernkompetenzen eben. Sondern auch mit scheinbar sauberen, legalen Geschäften: zum Beispiel mit Landwirtschaft und Lebensmitteln. Mafia 2.0, sagt man in Italien. Gemordet wird weniger, die verschiedenen Clans arbeiten auch zusammen, was sie früher nie taten. Sie können auf ein Heer von Weißkragen zählen, die ihnen helfen: Funktionäre in den Ämtern, Anwälte, Notare, Politiker, auch Polizisten. Das Geld? Kommt auch mal von der Europäischen Union direkt aufs Bankkonto, wie dieser Prozess zeigte.

Die Clans von Tortorici, einem hübschen Städtchen am Rand des großen und prächtigen Parco dei Nebrodi, wie ein geschütztes Naturparadies im Nordosten Siziliens heißt, haben lange Geld aus dem europäischen Agrarhaushalt abgeschöpft. Millionen Euro flossen, jedes Jahr. Die Subventionen waren für die Bauern und Hirten auf den Bergen der Nebrodi gedacht gewesen. Die arbeiten zwar auf einem einzigartig schönen Flecken der Insel mit seinen sattgrünen Wiesen, den Wasserfällen. Von fast überall sieht man das Meer und den Ätna. Körperlich ist die Arbeit aber besonders hart.

Oft gab es nur einen Bieter für Pachtland

Die Mafiosi agierten an zwei Fronten: Zunächst schüchterten sie die Bauern ein, um an ihr Land zu kommen. Sie brannten ihre Unterstände ab, sprengten ihre Traktoren in die Luft, töteten ihr Vieh, bis die Existenz der Bauern zerstört und aller Widerstand gebrochen war. Wenn nötig, töteten sie nach den Tieren auch die Aufmüpfigen selbst. Es gibt im Park eine lange Reihe ungeklärter Mordfälle, die meisten hat wohl die Mafia dei pascoli begangen.

Wurde Pachtland neu ausgeschrieben, kam es oft vor, dass nur ein einziger Bieter antrat, der dann den Zuschlag erhielt und eine minimale Pacht bezahlte. Zu Beginn gaben sie sich gar keine Mühe, ihre Identität zu verschleiern - im Gegenteil: Die Macht der Clans sollte wirken. So brachten die Clans immer mehr Flächen unter ihre Kontrolle. Je mehr Pachtland, desto mehr Geld floss aus dem Landwirtschaftsfonds.

2014 wurde ein Mann Präsident des Regionalparks, der dieses System aufdeckte und den Mut hatte, es zu bekämpfen: Giuseppe Antoci, Zweigstellendirektor einer Bank. Als er über das persönliche Schicksal von fünf Bauern verstanden hatte, wie gnadenlos die Mafia vorging und wie diese bei öffentlichen Ausschreibungen Lücken im Gesetz nutzte, führte er ein neues Protokoll ein. Es trägt seinen Namen, "Protocollo Antoci", und wird mittlerweile in ganz Italien angewandt. Die Clans profitierten nämlich davon, dass für Grundstücke unter einem Wert von 150 000 Euro kein Anti-Mafia-Zertifikat notwendig war, das heißt: kein Leumundszeugnis. Und so nahm sich die Mafia einfach ganz viele Grundstücke unter 150 000 Euro, oft lag der Wert bei 149 000. Wenn mal ein größeres dabei war, stellten sie sich die Zertifikate selbst aus. Antoci erreichte, dass alle Pächter genau kontrolliert wurden.

Giuseppe Antoci nahm den Kampf gegen die Kriminellen auf

Das war eine Art Kriegserklärung, für die Antoci und seine Familie auch vier Jahre nach dem Ende seiner Amtszeit noch immer teuer bezahlen. Rund um die Uhr muss er von vier Personenschützern bewacht werden, vor seinem Haus steht ein Jeep der Armee. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung erzählte er einmal, dass er sich sein altes Leben zurückwünsche, dass er mal wieder an den Strand gehen möchte mit den Töchtern, mal spontan in eine Pizzeria.

Die Kriminelle hassen Giuseppe Antoci. Im Mai 2016 schossen sie auf sein Auto. Auch nach dem Ende seiner Amtszeit hat er Personenschutz. (Foto: Francesco Saya/Picture Alliance/dpa)

Wie sehr ihn die Mafia hasst, zeigte sie am 18. Mai 2016. Antoci hatte an einer Dorfversammlung teilgenommen, es war spät geworden, 1.55 Uhr. Auf dem Heimweg, im Fond des gepanzerten Lancia Thesis, schlief er sofort ein. Schüsse weckten ihn. Der Fahrer bremste, weil große Steine auf der Landstraße lagen. Aus dem Hinterhalt feuerten nun zwei Attentäter mehrere Kugeln auf den hinteren linken Reifen ab, um das Auto am Weiterfahren zu hindern. Die Ermittler fanden Molotowcocktails am Tatort: Der Dienstwagen sollte angezündet werden. Doch Antoci hatte Glück: Auch der Polizeichef war auf dem Heimweg, den Tatort erreichte er zwei Minuten nach dem Präsidenten. Es gab einen Schusswechsel, dann türmten die Angreifer.

Der Anschlag auf Antoci schockierte die Italiener, es war davor lange ruhig gewesen auf Sizilien. Doch wie so oft dauerte es nicht lange, bis auch perfide Stimmen aufkamen, die behaupteten, Antoci habe vielleicht alles erfunden, um sich wichtig zu machen. Ein altes Verleumdungsmuster, es trifft viele mutige Kämpfer gegen die Mafia. 91 Verurteilte, 600 Jahre Haft. Der Boss der Familie Batanesi wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, jener der Familie Bontempo Scavo zu 22 Jahren. Die beiden Clans aus Tortorici herrschten über die Nebrodi, befanden die Richter in Patti. Eine persönliche Genugtuung für Antoci.

Die Mafia ist immer etwas schneller als der Staat

Aber ob sich nach dem Prozess viel ändern wird? Italien erhält etwa neun Prozent der europäischen Landwirtschaftszuschüsse, zwischen 2014 und 2020 waren das 37,5 Milliarden Euro. Und weil die EU die Kontrolle ganz den Mitgliedstaaten überlässt, vertraut sie also zum Beispiel darauf, dass die italienischen Behörden schon wissen, wer das Geld bekommt. Nun, sie wissen es besser als früher, auch weil Datenbanken zusammengelegt wurden. Und dank dem "Protocollo Antoci". Aber das Betrugsrisiko ist riesig.

Die Mafia 2.0 ist wendig, immer etwas schneller als der Staat. Neulich flog eine Mafia dei pascoli in der mittelitalienischen Region Abruzzen auf: ähnliches Muster, ähnliche Gewinne. Der Clan dort kooperierte mit Clans der neapolitanischen Camorra, der kalabrischen 'Ndrangheta - und mit der Mafia der Weiden aus dem Parco dei Nebrodi.

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