Korruptionsskandal bei Siemens:Wer ist der Nächste?

Lesezeit: 3 min

Der Schmiergeldskandal bei Siemens ist der größte, den es je in Deutschland gab. Wegen der hohen Summen musste das System der schwarzen Kassen nahezu perfekt organisiert sein. Daher könnte sich die Affäre noch rasch ausweiten.

Hans Leyendecker und Klaus Ott

Mindestens einmal im Jahr trafen sich früher bei Siemens die Mitglieder des Leitungskreises für den Bereich Telekommunikation (Com), um einem Vortrag über die Abgründe der Korruption zu lauschen.

Siemens: Neue Verdächtigungen nach der Weihnachtsruhe. (Foto: Foto: dpa)

Überliefert sind die Namen der Zuhörer - viele von ihnen Männer mit erstaunlicher Erfahrung auf diesem Gebiet: Ausgekochte Spezialisten fürs Tricksen und Verschleiern, von denen sich sechs inzwischen mit Ermittlungen der Staatsanwaltschaft im Schmiergeldfall Siemens konfrontiert sehen.

Natürlich saß auch der zum Organisator der Schiebereien ernannte Direktor Reinhard S., 56, im Publikum. Hat er gelacht, wenn der Redner sagte, dass "Integrität im Wettbewerb für uns unternehmensweit verbindlich" sei?

Oder einen roten Kopf bekommen? Die anderen, hat er neulich erzählt, hätten zu ihm rübergeschaut und gegrinst. Er habe die ganze Zeit auf irgendeine Vorlage geguckt. Der frühere Direktor hat der Staatsanwaltschaft erzählt, er erinnere sich an einen Redner besonders, weil der selbst in das Schmiergeldsystem eingebunden gewesen sei.

Ex-Finanzvorstand unter Verdacht

Die Trennlinie zwischen Halunken und Ehrenmännern ist in diesem Fall längst verwischt und neuerdings stellt sich die Frage, ob auch der frühere Siemens-Finanzvorstand Heinz-Joachim Neubürger, 54, zeitweise den Unterschied zwischen sauber und dreckig aus den Augen verloren hat.

Seit ein paar Tagen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den Manager. Es war ein Knall nach der Weihnachtsruhe, während der die Ermittler die 36.000 bei Siemens mitgenommenen Ordner weitgehend hatten ruhen lassen. Dann befanden sie, dass es gegen Neubürger einen Anfangsverdacht gibt sowie gegen den schon beschuldigten früheren Siemens-Zentralvorstand Thomas Ganswindt.

Zwar gilt die Unschuldsvermutung, aber es ist bemerkenswert, dass zwei ehemalige Kronprinzen für den Siemens-Vorstandsvorsitz in Verdacht geraten sind - das zeigt den Ernst der Lage.

Neue Fakten nach der Weihnachtsruhe

In den Weihnachtstagen hatte sich mancher gefragt, ob es jetzt genug sei, ob die Ermittler vor den ganz großen Namen zurückschreckten. Immerhin war der Skandal von 20 Millionen Euro Schmiergeld auf 200 und 420 Millionen Euro gewachsen - Rekord in Deutschland. Erst ging es um Untreue, dann um schwere Untreue - im Dezember tauchte der Begriff "Bestechlichkeit im geschäftlichen Verkehr" auf.

Es gibt Hinweise, dass nicht nur Manager des Bereichs Telekommunikation (Com) verstrickt sind, sondern auch Angestellte in anderen Bereichen wie dem Kraftwerksbau bestochen haben, um an Aufträge zu kommen.

Reinhard S. hat ausgesagt, Siemens habe in den 90er Jahren 500 Millionen Mark jährlich für Durchstechereien eingesetzt. Allerdings ist Bestechung im internationalen Geschäftsverkehr erst seit 1999 strafbar, bis 1998 durfte Schmiergeld sogar von der Steuer abgesetzt werden.

Wenn die Geständnisse von S. und einer weiteren Schlüsselfigur halbwegs stimmen, waren mindestens 60 weitere Kollegen in dunkle Geschäfte eingebunden oder haben sie gedeckt: Konzern- und Spartenvorstände, leitende Angestellte, Führungskräfte und Vertriebler von Landesgesellschaften. Ein Teil der Siemens-Welt steht unter Verdacht. Wer ist der Nächste?

Und wie funktionierte das komplexe System?

Versorgungslisten: Erst einmal sei, wie bei ordentlichen Kaufleuten, der Bedarf an Schmiergeld analysiert worden, erfuhren die Fahnder. Alles sei geregelt gewesen. Der kaufmännische Leiter und der Regionschef hätten ein Papier unterschrieben, in dem Land, Projekt, Auftragsvolumen und zu zahlenden Beträge vermerkt gewesen seien: fünf bis 30 Prozent der Projektsumme. Die Vertriebsabteilungen hätten dann Überweisungen ausgestellt.

Bargeld: In einem Münchener Panzerschrank habe manchmal bis zu eine Million Euro gelagert. Das Geld sei bei Bedarf an Siemens-Mitarbeiter im Ausland gereicht worden. Auch sei Geld bar von einer Bank zur anderen getragen worden. Mit den Einzahlungsbelegen sei es auf österreichischen Konten gutgeschrieben worden. Von dort erfolgten Überweisungen in alle Welt. Manchmal gelangte nach Aussage eines Boten Bargeld im Koffer nach Österreich.

System- und Ortswechsel: Lange Zeit sei das gut gegangen, doch Anfang des Jahrzehnts habe Siemens das System geändert und die schwarzen Kassen verlegt, berichteten Mitarbeiter. Einer der Gründe: Nach den Terroranschlägen in den USA seien die Kontrollen zur Verhinderung von Geldwäsche verschärft worden. Die Konten in Österreich wurden geschlossen, ein neues System mit Tarnfirmen und Scheinverträgen entstand, die Millionen flossen fortan per Überweisung über Liechtenstein, die Schweiz und Dubai.

Länder und Empfänger: Die Zahl der Länder, die nach Angaben er beiden Schlüsselfiguren in dem Schmiergeldkrimi eine Rolle spielen, liegt inzwischen bei 25 Staaten - Tendenz steigend. Die Spur führt von Südeuropa über den Balkan, Russland, den Mittleren Osten und Asien bis nach Afrika und Südamerika. Vielerorts seien Behörden und andere staatliche Stellen geschmiert worden, darunter sogar russische Geheimdienste.

© Primetime vom 12.01.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: