Kommentar:Die Vergessenen

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Politik und Gesellschaft sollten sich besser um Sozialberufe und Verkäufer kümmern. Die sind in ihrer Arbeit täglich dem Virus ausgesetzt und werden dabei noch schlecht bezahlt.

Von Alexander Hagelüken

Manchmal merkt man gesellschaftlichen Debatten sehr den Blick jener an, die solche Debatten üblicherweise prägen. Seit Wochen diskutieren die Deutschen übers Homeoffice, weil die Corona-Infektionen hoch sind. Müssen die Firmen mehr Menschen ermöglichen, Zuhause zu arbeiten, damit sie gesund bleiben und nach den Schulschließungen bei den Kindern sind? Das ist eine wichtige Diskussion. Nur leider kamen dabei jene kaum vor, die wegen ihrer Tätigkeit gar nicht ins Homeoffice können: Erzieher und Verkäuferinnen, Fabrikarbeiterinnen und Pfleger.

Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass die Debatte so einseitig ausfiel. Politiker und Verwaltungsleute, Ökonomen und Journalisten können ins Homeoffice. Erledigen sie dort ihren Job, weil das kein rückwärtsgewandter Arbeitgeber verhindert, ist das in Pandemiezeiten ein Privileg. Ihnen bleibt das Ansteckungsrisiko erspart, das andere Menschen täglich im Beruf haben. Und die tägliche Angst, trotz Plexiglas und Maske.

40 Prozent der Verkäufer fürchten, sich im Laden oder auf dem Weg dorthin zu infizieren. Bei Ärztinnen und Pflegern ist es knapp die Hälfte, bei Erziehern sogar mehr. Und das hat nichts mit Hysterie zu tun. Die Krankenkasse AOK fand heraus, dass sich Erzieher 2,3 mal so häufig mit Corona infizieren wie durchschnittliche Arbeitnehmer - der Spitzenwert. Medizinische Berufe folgen auf den nächsten Plätzen. Solche Befunde überraschen kaum. Kontakte gehören zu diesen Berufen dazu. Würden Erzieher im Kindergarten dauernd den offiziellen Abstand wahren, würden die Kinder seelisch verkümmern.

So erscheint es zwar verständlich, dass sich die jüngsten Beschlüsse der Politiker und Verwaltungsleute vor allem ums Homeoffice drehen. Doch es lässt sich nicht akzeptieren, dass sie sich zu wenig um die übrige Arbeitswelt kümmern. Ja, sie schreiben nun in bestimmten Fällen medizinische Masken vor. Das darf als Fortschritt gelten. Anderes jedoch unterbleibt fahrlässigerweise.

Als sich im Frühjahr 2020 Schlachtereien als Hotspots erwiesen, handelte die Politik konsequent. Sie schränkte das unselige Subunternehmertum ein und zwang die Fleischbranche zu Festanstellungen. Diesmal agiert sie weniger konsequent. Das fängt damit an, dass sie ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie erschreckend wenig weiß, wie und wie stark am Arbeitsplatz Corona übertragen wird. Zielgenaue Maßnahmen bedürfen genauer Daten.

Inkonsequent erscheint auch, Schulen zu schließen, Kitas und Horte aber vielerorts für jeden offen zu lassen. Anders als im Frühjahr 2020 müssen Eltern meist weder nachweisen, dass sie einer systemrelevanten Tätigkeit nachgehen - noch, dass sie überhaupt arbeiten. Dies strikter zu handhaben, würde das Risiko für die Erzieher senken.

Sinnvoll wäre zudem eine Pflicht für Unternehmen, in Hotspots regelmäßig die Belegschaft zu testen. Damit würden Infektionen schneller entdeckt und die Ausbreitung verhindert. Es ist schade, dass SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil seinen Plan für eine Testpflicht nicht durchgesetzt hat. Die Union folgt wie so oft ihrer Maxime, Unternehmen möglichst wenig zu belasten, erst recht in einer Wirtschaftskrise. Es ist eine Maxime, die in diesem Fall die Gesundheit von Beschäftigten gefährdet.

Dies reflektiert eine mangelnde Wertschätzung, die viele der betroffenen Arbeitnehmer gewohnt sind. Wer in einem Sozial- und Gesundheitsberuf tätig ist, verdient unterdurchschnittlich - ebenso wie Verkäuferinnen. Im Frühjahr 2020 sah es so aus, als erkenne die Gesellschaft, was sie an diesen Tätigkeiten hat. Bürger stellten sich auf ihre Balkone und applaudierten den "Corona-Helden" für ihren Einsatz. Danach gingen die Deutschen wieder zur Tagesordnung über.

Die Bertelsmann-Stiftung sagt voraus, dass sich der Einsatz weiterhin nicht besonders lohnen wird. Demnach verdienen Sozialberufe, Gesundheit und Verkäufer noch in fünf Jahren real 2000 bis 2500 Euro im Monat - deutlich unter dem Durchschnitt. Diese Arbeitnehmer verdienen mehr Wertschätzung. Dazu gehört, dass die Politik mehr Tarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt - ein Schub für die Löhne. Dazu gehören auch Sanktionen für Firmen, die Betriebsräte behindern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bat Bürgermeister Ernst Reuter die Menschheit, Berlin nicht seinem Schicksal zu überlassen. Vor den Trümmern des Reichstags rief er: "Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!" Etwas von seinem Pathos wäre heute für Sozial- und Handelsberufe angebracht: Schaut auf diese Menschen, die in der Pandemie jeden Tag so viel für uns alle leisten.

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