IWF-Ökonom Blanchard im Gespräch:"Ich bekenne mich schuldig"

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Noch vor kurzem war IWF-Chefökonom Olivier Blanchard voreilig optimistisch. Inzwischen erkennt er den Ernst der Lage - und schmeißt frühere Standardrezepte über Bord.

Björn Finke

Olivier Blanchard, 59, hat sich eine schwierige Zeit für seinen neuen Job ausgesucht. Der renommierte Ökonom ist seit September Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF). Der Franzose hat sich dafür von seiner Universität, dem Massachusetts Institute of Technology, beurlauben lassen. Der IWF senkte vor zwei Wochen seine Wachstumsprognose und erwartet nun für 2009 in den Industriestaaten ein Schrumpfen der Wirtschaft.

Olivier Blanchard gilt als einer der renommiertesten Volkswirte der Welt. Im Interview plädiert er für höhere Staatsschulden. (Foto: Foto: dpa)

SZ: Herr Blanchard, im Mai sagten Sie, Sie seien "recht optimistisch", was die Wirtschaftsentwicklung weltweit angeht. Da waren Sie wohl etwas voreilig, oder?

Blanchard: Ja, ich bekenne mich schuldig. Aber ich bin nicht der Einzige, der zu optimistisch war. Vor einem halben Jahr haben ich und andere Experten einfach nicht vorhergesehen, wie schnell und in welchem Ausmaß die Finanzkrise aus den USA den Atlantik überquert und am Ende die ganze Welt belastet. Es gab aber noch eine zweite böse Überraschung: Das Vertrauen der Verbraucher und Firmen in eine wirtschaftlich sichere Zukunft ist im September und Oktober unerwartet heftig eingebrochen. Deshalb halten sie sich bei Anschaffungen zurück. Entsprechend stark sinkt die Nachfrage. Daher haben ich - und der IWF - unsere Prognosen für das Wirtschaftswachstum gesenkt.

SZ: Wie wichtig sind denn Vertrauen und Zuversicht für die Konjunktur?

Blanchard: Der Verlust an Vertrauen, dieser indirekte Effekt der Finanzkrise, wiegt viel schwerer als die direkten Effekte der Krise wie etwa der Absturz der Aktienkurse oder die Zurückhaltung der Banken bei Krediten.

SZ: Am Wochenende haben sich die 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländer in Washington zu einem Krisengipfel getroffen. Hat das was gebracht?

Blanchard: Einige Leute haben offenbar großartige Beschlüsse erwartet, ein Bretton Woods II, also die Geburt einer neuen Finanzordnung. Ich habe das nie für realistisch gehalten. Die Regierungen haben sich darauf geeinigt, wodurch die Krise entstanden ist, sowie auf einige Maßnahmen gegen sie. Die Politiker scheinen im Großen und Ganzen in dieselbe Richtung zu denken. Das ist gut. Ich bin zufrieden mit den Ergebnissen.

SZ:: Umstritten unter den Staaten ist, wie stark sie die Finanzwelt regulieren sollen. Was meinen Sie?

Blanchard: Eine Lektion der Krise ist, dass Staaten nicht nur Banken überwachen müssen, sondern alle Akteure im Finanzsektor, also auch Hedge-Fonds, Rating-Agenturen oder Versicherungen. Außerdem müssen wir Obergrenzen setzen für den Hebel, mit dem Investoren auf Pump spekulieren.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Rolle der IWF künftig spielen soll und wie die europäischen Staaten auf die Krise hätten reagieren müssen.

SZ: Welche Rolle soll der IWF spielen?

Blanchard: Die Krise zeigt, dass wir eine internationale Einrichtung brauchen, die die Finanzwelt beobachtet und bei Risiken warnt. Der IWF ist dafür der geborene Kandidat, denn wir schauen uns heute schon Staaten und Risiken an.

SZ: Reichen denn nicht die nationalen Aufsichtsbehörden aus?

Blanchard: Die einzelnen Staaten nehmen häufig nur wahr, was in ihrer Nachbarschaft passiert. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn Ungarn Probleme hat, ist die österreichische Regierung alarmiert, weil österreichische Banken im Nachbarland engagiert sind. Aber Frankreich ist nicht alarmiert, obwohl französische Banken wiederum mit österreichischen Banken Geschäfte machen. Über diesen Umweg treffen Probleme in Ungarn auch Frankreich.

SZ: Hat Europa deswegen unterschätzt, wie sehr die US-Krise auch die alte Welt in Mitleidenschaft zieht? Haben die EU-Staaten zu spät reagiert?

Blanchard: Die Europäische Zentralbank, die EZB, hat sicher nicht zu langsam reagiert. Im Gegenteil, die EZB hat rasch und richtig gehandelt und den Banken mehr Geld zur Verfügung gestellt.

SZ: Und die Regierungen?

Blanchard: Dass die Zentralbank Kredite zur Verfügung stellt, reicht nicht. Die Banken brauchen wegen der vielen Verlustbringer in ihren Büchern frisches Kapital. Hier sind die Regierungen gefragt: Sie müssen den Banken Kapitalspritzen verpassen. Die Staaten in Europa waren da anfangs sehr zögerlich. Hätten sie früher erkannt, wie ernst die Lage ist, und hätten sie schneller reagiert, wären die vergangenen Monate ein wenig freundlicher verlaufen.

SZ: Ist das Zögern nicht verständlich? In einer Marktwirtschaft ist es eigentlich nicht Aufgabe des Staates, bei strauchelnden Firmen einzusteigen.

Blanchard: Wir erleben gerade vielleicht die erste weltweite Finanzkrise, aber sicher nicht die erste Bankenkrise. Der IWF hat schon mit vielen Krisen zu tun gehabt. Wir haben gesehen, was funktioniert und was nicht. Und wenn Banken zu wenig Kapital haben und private Investoren nicht helfen wollen, muss der Staat einspringen.

SZ: Sehen Sie das auch so bei anderen Branchen, etwa der Autoindustrie?

Blanchard: Eigentlich gilt: Warum sollte der Staat eine Firma retten, wenn kein privater Investor das für lohnenswert hält? Aber wir leben gerade nicht in normalen Zeiten. Wir leben zwar auch nicht in verzweifelten Zeiten, aber sicher in ernsten Zeiten. Die Pleite eines bekannten Konzerns wie General Motors in den USA könnte die Erwartungen der Verbraucher und Firmen für die Zukunft stark belasten. Dabei ist das Vertrauen schon jetzt erschüttert. Daher würde ich in diesen ernsten Zeiten Staatshilfe nicht von vorneherein ausschließen. Aber die Regierung sollte nicht einfach nur einen Scheck ausstellen, sondern muss dafür einen Anteil an der Firma bekommen. Außerdem muss ein glaubwürdiger Plan dafür vorliegen, wie das Unternehmen umgebaut und gerettet werden kann.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie die Langzeitfolgen der Krise aussehen werden.

SZ: Der IWF schlägt also Teilverstaatlichungen vor. Früher hat Ihr Arbeitgeber kriselnden Entwicklungsländern immer empfohlen, möglichst viel zu privatisieren und das Staatsdefizit zu senken. Auch das Thema Haushaltsdisziplin scheinen Sie aber nicht mehr so ernst zu nehmen. Der IWF rät den Europäern, die Staatsausgaben auf Pump zu erhöhen.

Blanchard: Noch vor sechs Monaten hätte ich den Europäern den bekannten Standard-Ratschlag des IWF gegeben, denn die Staatsdefizite sind ja zu hoch und sollten gesenkt werden. Aber in der heutigen Lage muss Europa die Nachfrage ankurbeln, und höhere Staatsausgaben sind dafür das wichtigste Mittel. Die Zinsen sind bereits niedrig, so dass Notenbanken nur wenig Möglichkeiten haben, durch weitere Senkungen die Nachfrage zu erhöhen. Wir befinden uns erst am Anfang einer Wirtschaftskrise, und es ist fast der Lehrbuchfall einer keynesianischen Rezession, bei der die Nachfrage einbricht und der Staat einspringen muss. Alle Länder, die ihre Defizite erhöhen können, sollten das tun, keiner sollte den Trittbrettfahrer spielen.

SZ: Einige osteuropäische Länder stehen vor der Pleite, weil Investoren ihr Kapital massiv abgezogen haben. Die Staaten, die den Euro eingeführt haben, haben damit nicht so zu kämpfen, obwohl Spanien oder Italien früher immer die üblichen Verdächtigen bei Krisen waren.

Blanchard: Jetzt den Euro zu haben, hilft diesen Ländern enorm. Ohne die Gemeinschaftswährung hätten Italien, Spanien und Portugal ihre Währungen sicher stark abwerten müssen - mit allen negativen Folgen. Würden die baltischen Staaten über Nacht den Euro bekommen, würde sich ihre Situation auch deutlich verbessern.

SZ: Was werden auf lange Sicht die schlimmsten Folge der Krise sein?

Blanchard: Es wird lange dauern, bis das Finanzsystem wieder komplett gesundet ist. So ist es überhaupt nicht klar, dass jene Banken, die vom Markt verschwunden sind, wirklich die schwächsten waren. Außerdem werden die Akteure des internationalen Finanzsystems teilweise Staaten gehören. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Staatsbesitz an Banken Probleme bereitet. Die Regierungen werden auch mit höheren Schulden zu kämpfen haben. Aber es kann noch schlimmer kommen: So könnten sich Staaten wegen der Krise stärker vom weltweiten Handel abschotten.

© SZ vom 20.11.2008/ld - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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