Innovatives Bauen:Stark wie Stahl

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Bambus galt in Asien lange als Billigmaterial für arme Leute. Doch nun gewinnt dieser schnell nachwachsende Baustoff wieder an Bedeutung - auch in europäischen Ländern. Und das hat nicht nur mit der Klimakrise zu tun.

Von Gabriela Beck

Fast einen Meter täglich schießen die Halme des Riesenbambus empor, bahnen sich ihren Weg bis zu 40 Meter in die Höhe. Das ist Weltrekord. Keine andere Pflanze wächst schneller. Bambus ist biegsamer als Holz und stärker als Stahl. Das macht ihn als Baustoff interessant. Selbst Orkane und Erdbeben meistert er oft problemlos. Und: Er gehört zu den nachhaltigsten Rohstoffen überhaupt. Aufgrund seines schnellen Wachstums bindet Bambus in kurzer Zeit viel Kohlendioxid aus der Atmosphäre. Schon nach drei bis fünf Jahren kann er geerntet werden. Eiche, Buche oder Ahorn erreichen erst nach hundert Jahren die Hiebreife. Wobei durch das Fällen nicht die ganze Bambuspflanze stirbt, wie es bei Bäumen der Fall ist. Viele der mehr als 1400 bekannten Arten haben großflächige Wurzelsysteme, aus denen ständig neue Halme sprießen. So können große Mengen nachhaltig gewonnen werden.

Geschätzte 90 Prozent der zukünftigen Ansiedlung in Städten wird in Ländern des tropischen Gürtels stattfinden. Dort, wo Bambus wächst. Diesen Regionen macht der Klimawandel besonders zu schaffen. Die Erderwärmung aufgrund der zunehmenden Menge an Treibhausgasen bewirkt verlängerte Trockenzeiten. Tropischer Regenwald wandelt sich zu Savanne. Daher scheint es sinnvoll zu sein, in diesen Ländern einen lokal verfügbaren Baustoff einzusetzen, der die CO₂-Bilanz verbessert und somit zur Lösung der Klimakrise beitragen könnte. Architekten und Ingenieure arbeiten daran, Bambus so praxistauglich wie Bauholz zu machen.

Bei Bambus-Gebäuden denken viele Menschen an anspruchslose, provisorische Architektur - ein Klischee

"Bambus gilt in den Herkunftsländern Asiens und Lateinamerikas immer noch als minderwertiges Material", sagt der Münchner Installationskünstler und Konstrukteur Markus Heinsdorff. "Die Ärmsten wohnen dort in Bambushütten." Um das Gras als modernen Baustoff zu etablieren, müsse man den Nimbus der Armut vertreiben. Bambus werde entweder mit anspruchsloser provisorischer Architektur in Verbindung gebracht oder mit luxuriösen Spa-Bauten im klischeehaften Kolonialstil.

Bambus ist eine der am schnellsten wachsenden Pflanzen der Welt. Praktisch für Architekten: Das Material ist biegsam, aber belastbar. (Foto: WernerL/imago)

Der Mann hat Erfahrung. Schon vor 18 Jahren baute Heinsdorff in Indonesien und Thailand mit Bambus, erregte 2010 mit dem Deutsch-Chinesischen Haus auf der Expo in Shanghai Aufsehen. Um für den zweigeschossigen Pavillon die erforderliche Stützenhöhe von acht Metern zu erreichen, verwendete Heinsdorff die hohlen Halme des Julong-Bambus, einer Riesenbambusart aus Südchina. In Zusammenarbeit mit Universitäten in China und Deutschland mussten für den Einsatz der ungewöhnlich langen Naturrohre neue Techniken der Stabilisierung und des Brandschutzes entwickelt werden. Ebenfalls eine Pionier-Konstruktion: die sieben Meter langen Tragbalken aus verleimtem Bambuslaminat. "Es waren damals in ganz China keine Baufirmen aufzutreiben, die genug Erfahrung mit dem Baumaterial Bambus gehabt hätten, als dass sie uns mit der Lösung der technischen Herausforderungen hätten behilflich sein können", erzählt Heinsdorff. Vielmehr zeigte sich bei Funktionären und Besuchern der Ausstellung eine gewisse Verwunderung darüber, dass sich eine Hightech-Nation wie Deutschland mit einem Bauwerk aus dem "Billigmaterial" präsentiert.

In den vergangenen Jahren erfreut sich Bambus als Baumaterial jedoch steigender Beliebtheit. Kontrolliert angebaut und verarbeitet, nimmt es seine Zugfestigkeit mit der von Baustahl auf. Wobei seine mechanischen Eigenschaften den meisten Bauhölzern überlegen sind. Immer mehr Architekten arbeiten mit dem Naturmaterial. Bauen mit Bambus liegt im Trend.

So hat das mexikanische Architekturbüro Co-Lab vor Kurzem den Luum-Tempel in Tulum fertiggestellt, formal inspiriert von geschwungenen Betonschalenbauten. Das Tragwerk wird geprägt durch fünf gewölbeartige Decken. Wie eine umgedrehte Blüte angelegt, öffnen sie sich einladend zur Umgebung hin. Für die Konstruktion haben die Architekten lange Abschnitte aus jungem Bambus verwendet, der noch hochbiegsam ist. Carlos Bañón und Felix Raspall haben unter dem Namen Airlab einen Pavillon für das Urban Design Festival 2018 in Singapur entworfen. Vor dem Bau scannten sie zunächst das Tragwerk aus einzelnen Stäben, um die Geometrie aufzunehmen. Ein Algorithmus berechnete anschließend die einzelnen Verbindungsknoten und die erforderliche Länge der Bambusstäbe. Jede Verbindung und jeder Stab war ein wenig unterschiedlich. Die 36 individuellen Knoten fertigte dann ein 3-D-Drucker aus Kunststoff. Per Hand wurden die einzelnen Stäbe schließlich hineingesteckt.

Bambus ist vielseitig einsetzbar. Das zeigen zum Beispiel die ausgefeilten Konstruktionen des Münchner Installationskünstlers Markus Heinsdorff. (Foto: Markus Heinsdorff)

Um die Anwendungsmöglichkeiten von Bambus mit traditionellen Verbindungstechniken zu erweitern, haben Kyle Schumann und Katie MacDonald von der University of Tennessee eine Fräsmaschine entwickelt, die nicht größer ist als ein Haushaltsofen. Ein tragbares und erschwingliches Werkzeug für den lokalen Handwerker, mit dem individuelle Bauteile direkt auf der Baustelle hergestellt werden können. Eine der Herausforderungen beim Bauen mit Bambus besteht nämlich darin, die unregelmäßig gewachsenen Enden der Rohre fest miteinander zu verbinden. Mit der Maschine können alle möglichen Formen ausgefräst werden, solange die Wandstärke des Materials es hergibt.

"Wenn es der klimatischen Extremsituation in den Tropen trotzt, hält es auch im Rest der Welt."

Markus Heinsdorff schätzt Bambus mehr denn je als Baumaterial der Zukunft. Er könnte sich Bambusbauten sogar in Europa vorstellen. "Natürlich ist die CO₂-Bilanz immer besser, wenn man lokale Baustoffe im eigenen Land verarbeitet", sagt er. Wenn die Energie für den Transport aber aus erneuerbaren Quellen komme, wie es mit alternativen Schiffsantrieben bald der Fall sein könnte, lohne es sich durchaus, über den Einsatz von Bambus anstelle von Holz nachzudenken. "Unsere Bäume machen sich jedenfalls besser in der Umweltbilanz, wenn sie nicht gefällt werden."

Kritisch sieht das Dirk Hebel vom Karlsruher Institut für Technologie: Bambusrohre im Ganzen zu verschicken sei nicht besonders sinnvoll. "Dann transportiere ich vor allem Luft."

Ein großflächiger Anbau in Deutschland wäre problematisch. Zwar käme der als Baustoff vorzugsweise verwendete Riesenbambus mit den klimatischen Bedingungen in warmen Gebieten Südeuropas zurecht, die Anbauflächen würden aber in Konkurrenz mit Forstflächen und jenen für die Lebensmittelproduktion stehen. Außerdem gibt es in Deutschland derzeit keine Normen für Bambus als tragende Konstruktionselemente.

Wandverkleidungen beim Tropical Town Project Batam in Indonesien. (Foto: Urban-Rural System)

Dirk Hebel hat mit seinem Team einen industriell produzierbaren Bambus-Verbundwerkstoff entwickelt. Er besteht zu 90 Prozent aus Bambusfasern und Harzen, die miteinander verpresst werden. Damit möchte er die Schwächen des Naturmaterials ausgleichen. Denn Bambusfasern reagieren wie Holz mit Quellen und Schwinden auf eine Änderung der Luftfeuchtigkeit. Sie sind dadurch auch anfällig für Bakterien- und Pilzbefall. Verpresst man aber das Material, können kaum Feuchtigkeit und Mikroben in den Werkstoff eindringen.

Ein erstes Haus mit einer Wandverkleidung aus dem neuartigen Bambus-Komposit steht seit etwa einem Jahr in Indonesien, im Tropical Town Project Batam. Dort liegt die Luftfeuchtigkeit um die 80 Prozent bei Temperaturen von 28 bis 35 Grad Celsius. Die Wissenschaftler werden den Prototyp noch ein paar Jahre beobachten, es geht ihnen um die Langlebigkeit des Materials. "Wenn es der klimatischen Extremsituation in den Tropen trotzt, hält es auch im Rest der Welt", sagt Hebel.

In der Presse zu Stangen geformt, eignet sich der Bambus-Verbundwerkstoff auch zur Verstärkung von Betonteilen. Die Forscher um Dirk Hebel haben eine nachhaltige Alternative zu herkömmlichen Armierungseisen entwickelt, die die Zugkräfte in Stahlbeton aufnehmen - eine Art grünen Stahl. Damit ergibt sich eine echte wirtschaftliche Perspektive für Länder, in denen Bambus wächst. Denn Stahlbeton ist das gebräuchlichste Baumaterial der Gegenwart. Der weitaus größte Teil wird mittlerweile in Schwellen- und Entwicklungsländern eingesetzt. Allerdings haben die wenigsten davon die Ressourcen, selbst Stahl zu produzieren. Sie müssen den Baustoff importieren. Und das ist teuer, denn dessen Herstellung benötigt viel Energie und die Transportstrecken sind weit.

Bambus hingegen ist nachwachsend und lokal verfügbar. Und er hat einen ökologischen Vorteil: Statt im Herstellungsprozess Kohlendioxid freizusetzen, bindet er das Treibhausgas beim Wachsen und gibt es erst wieder frei, wenn er verrottet. Auf den Einsatz von Stahlbeton hat Dirk Hebel eine erweiterte Sicht: "Die ganze Welt hat sich auf eine Handvoll Baumaterialien eingeschworen. Wir sollten die Palette mit lokalen Alternativen nachhaltig erweitern." Da Flachs- und Hanffasern eine ähnlich hohe Zugfestigkeit wie Bambus haben, möchte er noch dieses Jahr die heimischen Naturfasern auf ihre Tauglichkeit als grüner Stahl testen.

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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