Früher war vieles einfacher. Noch vor kurzem konnte man beim Besuch eines Bekannten erkennen: "Nicholas Sparks im Regal und noch ein paar Platten von den Ärzten, na, wir werden wohl nicht die allerbesten Freunde." Geschmack, so hat es auch der Schriftsteller Nick Hornby in seinem Roman "High Fidelity" beschrieben, ist nie nur Vorliebe, sondern auch Schaufenster der Identität.
Nun werden die Bücherregale noch nicht seltener. Doch immer öfter stößt man auf eines der digitalen Lesegeräte wie dem Kindle des Onlinehändlers Amazon. Die Musik verschwindet auf einer Festplatte oder einem iPod. Wie verhält es sich da nun mit Geschmack, Bildung und Humor?
Sind auf diesen Geräten Zeichnungen von F.K. Waechter gespeichert, eine Beckett-Gesamtausgabe und Musik von den Flaming Lips? Oder eben doch Nicholas Sparks und die Ärzte? Oft kann man jetzt schon den Übergang vom analogen zum digitalen Kulturkonsum an den Regalen erkennen.
Die sichtbare Sammlung wird mit dem Zeitpunkt des Gerätekaufes deutlich dünner. Und das funktionale Grau des Kindle, das schlichte Weiß des iPods verraten nun einmal nichts über ihre Besitzer.
Und auch außer Haus verschwindet mit der Mobilität der digitalen Geräte eine Möglichkeit, sich zu unterscheiden. Auf der Zugfahrt oder beim Pendeln im Nahverkehr ist das Buch seiner Rolle als Statussymbol beraubt. Wie soll man mit dem Sitznachbarn ins Gespräch über seine Lektüre kommen, wenn der nur auf einen Bildschirm blickt?
Tief in der kulturellen DNS der Menschheit
Dabei hat das öffentliche Lesen eine lange Geschichte. Die fixierte Schrift besitzt schon seit den Papyrusrollen des pharaonischen Ägypten einen hohen materiellen Wert. Tief in der kulturellen DNS der Menschheit ist verankert: Die Fähigkeit und Möglichkeit, ein Buch zu lesen, setzten zu allen Zeiten Wissen, Zeit und - in der Regel - Verstand voraus.
Eines steht jetzt schon fest: Bücher sind digital günstiger, mobiler, leichter und bereits heute so einfach zu konsumieren wie ein klassisches Buch. Das mag die positive Kehrseite haben, dass die Essenz des Buches zählt: Am Ende ist es der Text, der ein Buch zum Buch macht. Und nicht der Leineneinband oder das besondere Papier. Aber auch für weniger statusfixierte Menschen stellen sich künftig gewichtige Fragen. Zum Beispiel die, ob und wie die eigene Identität vom Medienwandel betroffen ist.
In diese Lücke will nun das soziale Netzwerk Facebook mit einer neuen Funktion stoßen, die letzte Woche vorgestellt wurde: der Timeline. Dieses Programm funktioniert wie eine teilautomatisierte Abbildung eines Menschenlebens auf dem Computerbildschirm.
Jeder Mausklick, jeder Ortswechsel, jede neue digitale "Freundschaft" wird auf einer abrufbaren Zeitlinie gespeichert. Und weil man in Zukunft auf Facebook auch Filme ansehen, Musik hören und Texte lesen kann, soll sich dort nun auch jenes Geschmacksprofil abbilden, das früher im Regal sichtbar wurde.
Die Facebook Timeline ist nicht die erste Form der kulturellen Selbstdarstellung im Netz. Sie treibt sie jedoch auf die Spitze. In geringerem Umfang lässt sich das kulturelle Profil bei einem regelmäßigen Nutzer von Facebook bereits heute klar erkennen, und oft kann man auch den gesellschaftlichen Status, den Bildungsgrad und die kulturelle Sozialisierung ablesen.
Die Internetseite tut dies sogar differenzierter als ein Bücherregal, reicht doch oft ein Mausklick, um einen Text, ein Stück, ein Video der eigenen digitalen Persönlichkeit hinzuzufügen. Die ist, wenn man sie denn nicht blockiert, von jedem Ort der Welt aus einsehbar.
Selbstporträts für Facebook:Ich fotografiere, also bin ich
Soziale Netzwerke wie Facebook sind ein Ort für geübte Selbstdarsteller. Wer dort aktiv ist, will sich möglichst gut präsentieren - oft mit einem eigenhändig geschossenen Foto. Der Fotograf Wolfram Hahn hat dem intimen Moment des Selbstporträts nachgespürt.
Das Blenden fällt dabei immer schwerer. Was im Netz in den Profilen steht, ist bereits heute nur noch schwer zu manipulieren. Die Konzerne haben großes Interesse an wahrhaftigen Fakten über ihre Kunden, um ihnen maßgeschneiderte Werbung zu verkaufen und so ähnlich wie möglich tickende Zeitgenossen als "Freunde" anzubieten.
Deshalb erheben sie Informationen über das Tun und Lassen ihrer Mitglieder so, dass die Information identisch ist mit dem, was der Betroffene tatsächlich unternimmt. Kurz gesagt: Nur wer tatsächlich stundenlang Zwölftonmusik gelauscht hat, wird als Fan von Zwölftonmusik anerkannt.
Sobald Bücherregale aber ihre repräsentative Funktion verlieren, wird der Besitz von Büchern für viele Menschen unattraktiver. "Ist der Nimbus einmal dahin, bleiben einige Kubikmeter Zellulose zurück", schrieb die Berliner Autorin Kathrin Passig im Dezember 2010 im Merkur.
Partielle Synchronisierung
Passig, die sich selbst als Vielleserin beschreibt, mittlerweile aber alle ihre Bücher verschenkt oder verkauft hat, stellt fest: "Meine Lage als Leserin hat sich in jeder Hinsicht verbessert, während meine berufliche Zukunft als Autorin ungewiss ist."
Das Leben in der digitalen Welt ist eine fortlaufende Synchronisierung zwischen dem Leben, das man auch ohne Netz führen könnte, und dem in der Virtualität. Dieser Synchronisierungsvorgang ist derzeit auch bei Menschen, die das Netz intensiv nutzen, noch partiell: Was sie denken, twittern sie, was sie besitzen, scannen sie, was sie hören, steht für alle anderen lesbar in der Statusmeldung ihres Chatprogramms und wo sie sind verrät ihr Facebook- oder Foursquare-Profil ebenfalls.
Wie, wo, wann und unter welchen Umständen - also zum Beispiel mit oder ohne Einwilligung der betroffenen Personen - diese Daten gespeichert werden und wem sie gehören, ist ein zentraler Punkt in heftigen Debatten über das Leben im Digitalen. Denn je schärfer das digitale Profil, desto durchsichtiger der Mensch.
Doch bei Büchern und CDs, bei Medien im Allgemeinen wird sich eine Kluft auftun zum Rest der digitalen Existenz und vor allem zum wirklichen Leben. Nur wer sich darauf einlässt, seine Lektüre, das Musikhören und Ansehen von Filmen wirklich ins Netz zu verlegen, wird auch die Spuren hinterlassen, die ihm ein kulturelles Profil verleihen. Da verhält es sich anders als bei Eigenschaften des menschlichen Alltags wie zum Beispiel dem Aufenthaltsort. Diese sind von der Veröffentlichung selber nicht betroffen - das Netz hat keine Rückwirkung. Bücher und Platten aber werden durch ihre digitalen Varianten ersetzt, und zwar einschließlich ihrer Distinktions- und Idenfikationsfunktion.
Wissen verschwindet als Unterscheidungskriterium
Damit ist ein klassisches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft letztlich doch bedroht. Vielleicht zählen sogar Bildung und Geschmack als solche weniger in einer Welt, in der alles als in Sekunden erfahrbar ist. Wer nicht weiß, wovon die Rede ist, wenn der Kollege vom Frieden von Aachen spricht, der googelt mit dem Handy unter dem Tisch schnell nach. Das ersetzt zwar kein Studium der mittelalterlichen Geschichte, ist aber eine probate Abhilfe in heikler Situation.
Vor allem aber besteht heutzutage zu jedem Zeitpunkt die Möglichkeit, dass auch derjenige, der eben das komplexe Thema aufwarf, nur Minuten vorher im Netz unterwegs war, kurz: ein Blender ist. Positiver ausgedrückt, könnte man auch formulieren, dass Wissen für fast jeden in den Industrienationen jederzeit abrufbar ist. Man kann davon halten, was man will: In einer Gesellschaft, in der noch so komplexe Details einzelner Fachrichtungen für jeden zugänglich sind, ist Wissen nicht länger ein anerkanntes Unterscheidungskriterium.
So könnte der Buchbesitz in seiner physischen Form mehr und mehr ein Vergnügen für Sammler werden. Sollte man allerdings in einigen, vielleicht vielen Jahren überraschend bei einem neuen Bekannten ein gut gefülltes Regal erblicken, dann kann man sich noch sicherer sein als heute: Wir könnten Freunde werden.