Die Tellerwäschergeschichten des 21. Jahrhunderts verlaufen nach einem schlichten Muster: Ein paar privilegierte Jungs (eher seltener - Mädels) langweilen sich während ihres Studiums an einer amerikanischen Elite-Uni und entwickeln auf ihren Studentenbuden eine Internetanwendung für ihr Hobby. Das können Mädchen sein, Videospiele, Telefonfreundschaften oder Hip-Hop-Songs. Ein Investor schaltet sich ein. Bald darauf ist das Internet nicht mehr, wie es vorher war, und die gelangweilten Studenten sind Milliardäre.
Wer die drei Gründer der Webseite Rap Genius bei der diesjährigen DLD-Konferenz erlebte, der traf drei gut aussehende, ex-Yale-Studenten mit ausgeprägtem Modegeschmack, die genau wussten, dass sie von den Mächten im Silicon Valley als Helden der nächsten Tellerwäschergeschichte auserkoren wurden. Den Beweis lieferte allein schon die Präsenz ihres Investors, der ihren Auftritt moderierte - Ben Horowitz.
Der hat vor acht Jahren gemeinsam mit Marc Andreessen, dem Erfinder der ersten Webbrowser für die Massen Mosaic und Netscape, einen Fonds aufgesetzt, dem Midas-Qualitäten nachgesagt werden. Horowitz und Andreessen investierten Mitte der Nullerjahre früh in Firmen wie Twitter, Skype, Facebook und Airbnb, die allesamt ganze Industrien veränderten. Und nun eben in Rap Genius. Wobei es Horowitz und Andreessen ganz sicher nicht um den Inhalt der Seite geht.
Großteil des Rap-Kanons
Rap Genius funktioniert ganz einfach. Auf der Webseite finden sich Hip-Hop-Texte, die mittels einer Fußnotenfunktion mit Interpretationen und Querverweisen ausgestattet werden können. Was mit einem Song von Cam'ron begann, umfasst inzwischen nicht nur einen Großteil des Rap-Kanons, sondern auch Rock und Country, deutsche und französische Literatur, Lyrik, politische Reden, philosophische Texte, die Bibel und den Talmud.
Die Webseite und ihre Ableger machen dabei nicht den Eindruck bahnbrechender Technologie. Mit den weißen und orangefarbenen Textzeilen, den kruden Annotationsfenstern und beliebigen Bildern erinnert Rap Genius eher an ein frühes Onlineforum aus den Neunzigerjahren. Und doch nähert sich Rap Genius gerade der neuen Schallmauer des Internets an: dem Kontext.
Die Kontextualisierung bleibt im Internet immer noch eine Herausforderung, weil die meisten Funktionen des Netzes weiterhin der Sprache der Mathematik folgen. Weil die Mathematik aber immer noch eine weitgehend lineare Erzählform ist, und weil diese in der digitalen Welt auf einer Syntax basiert, die als Grundregel die Formel Eins ist nicht gleich Null beinhaltet, sind die Kontexte im Internet immer noch eine Simulation.
Wie schnell das Internet an die Grenzen des Kontexts stößt, zeigen gerade die Schwierigkeiten der neuen Musikwebseiten wie Spotify, Pandora oder last.fm. Die basieren auf Algorithmen, die vermeintlich den Musikgeschmack ihrer Nutzer treffen. Die Algorithmen dieser Seiten berechnen dabei die mathematisch erfassbaren Seiten der Musik - Tempo, Rhythmus, harmonischer Aufbau, eben alles, was man auch in einer Partitur finden würde -, und kombinieren das mit Genre-Etiketten wie "Soft Rock" oder "Gangsta Rap".
Doch Musikgeschmack ist nicht berechenbar, weil diese Kriterien nur der technische und formale Rahmen sind für ein komplexes System aus emotionalen, biografischen und klangbildlichen Reizpunkten, die jeder Nutzer anders empfindet.
Reduziert man den Kontext von Musik nun auf die Texte, geht man gleich mehrere Schritte zurück. Als eindimensionales Medium ist Text um ein Vielfaches leichter zu erfassen und zu interpretieren. Um das Prinzip des Kontextes in eine netztaugliche Form zu bringen eignet sich allerdings kein Genre so gut, wie die Lyrik des Hip-Hop.
Mit dem Beginn der so genannten goldenen Jahre des Hip-Hop gegen Ende der Achtzigerjahre, entwickelten die Rapper ein lyrisches System, das unendliche Sprach- und Bezugsebenen kombinierte. Ein Schlüsselmoment dieser Entwicklung war die Single "Follow the Leader" von Eric B. & Rakim im Jahr 1988. Rakim brach in dem Song endgültig mit den Animier-Phrasen ("Is the party over here?") und Prahlereien ("When I'm on the mic, I rock the house right!") der ersten Generation.
Bei "Follow the Leader" waren die Reime mit Anspielungen auf den Verlust der eigenen Geschichte in der Sklaverei, auf die Lehren der afroamerikanischen Islamsekte Five Percent Nation, auf die Hits seines ersten Albums und auf den New Yorker Nahverkehr gespickt. Allein in der Zeile "The stage is a cage, the mic is like a third rail" steckte neben der regionalen Folklore (das "dritte Gleis" ist in der New Yorker U-Bahn die Hochspannungsleitung) das Motiv von der Selbstermächtigung der befreiten Sklaven im Aufbruch in den Norden während der "Great Migration".
Rakim öffnete die Tür für die lyrischen Abstraktionen und Codes in den Texten von Nas, Asap Rocky oder Azealia Banks. Und die Bezüge werden durch die Sprachebenen der zeitlich und regional oft deutlich unterschiedlichen Slangs immer weiter abstrahiert. Google findet so etwas nicht. Das schaffen nun die Tausenden Rap-Genius-Nutzer die diese Bezüge für symbolische "Rap IQ"-Punkte erstellen, ähnlich wie die Wikipedia-Nutzer das Weltwissen zusammentragen.
Vernetzung der Inhalte
Zwar beteiligen sich inzwischen auch etablierte Stars. Doch was Rap Genius und seine Ableger vor allem leisten, ist die Erstellung eines Basismodells für die Kontextualisierung des Internets. Wer die in den Griff bekommt, der kann die Vernetzung der Inhalte im Internet auf die nächste Stufe bringen. Was diese nächste Stufe bedeutet, ist abzusehen.
Suchfunktionen können sich weiter der menschlichen Sprache annähern. Die Lernfähigkeit künstlicher Intelligenz steigt. Die Zielgenauigkeit von Werbe- und Verkaufsprogrammen wird präziser. Leistung- und Produktivität werden gesteigert. Oder um es im Jargon des Silicone Valley zu sagen: "context is king". Dann muss er noch automatisiert werden.