Egal, ob eine Unfallversicherung über den Sportverein, eine Krankenzusatzpolice über den Arbeitgeber oder die Absicherung eines Bankkredits: Viele Menschen sind Teil einer sogenannten Gruppenversicherung, ohne es zu wissen. Dabei schließen ein Unternehmen oder ein Verein einen Rahmenvertrag mit einem Versicherer ab und bieten Mitarbeitern, Kunden oder Mitgliedern an, ihm beizutreten.
Diese in Deutschland weit verbreitete Vertragskonstruktion hat jetzt einen Dämpfer durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) erhalten. Die Richter haben entschieden, dass die Gruppenspitze, also das Unternehmen oder der Verein, unter bestimmten Voraussetzungen als Versicherungsvermittler zu betrachten sind. Das Urteil (Aktenzeichen C 633/20) wird nach Einschätzung von Experten weite Kreise ziehen.
Wie groß die Bereitschaft ist, hier mitzumachen? Das ist die Frage
"Die Folgen der aktuellen EuGH-Entscheidung für die Praxis sind weitreichend", sagt Versicherungsjurist Martin Karwatzki von der Kanzlei Heuking Kühn Lüer Wojtek. Denn die Unternehmen und Vereine fallen damit unter die Anforderungen der EU-Vermittlerrichtlinie IDD. Sie müssen bei der für sie zuständigen Industrie- und Handelskammer eine Erlaubnis zur Versicherungsvermittlung einholen und sich dort registrieren lassen. Dafür benötigen sie einen Sachkundenachweis und eine Haftpflichtpolice für den Fall, dass sie einen Beratungsfehler begehen und Kunden Schadenersatz fordern. Zudem müssen sie umfangreiche Informations- und Beratungspflichten erfüllen und sich regelmäßig fortbilden. "Ob auf Seiten der Gruppenspitzen die Bereitschaft besteht, den damit einhergehenden Aufwand auf sich zu nehmen, bleibt abzuwarten", zweifelt Karwatzki.
Ursprünglich war die Gruppenversicherung geschaffen worden, um es Arbeitgebern und Vereinen zu ermöglichen, Mitarbeiterinnen und Mitgliedern möglichst unkompliziert Versicherungsschutz bieten zu können. Sie betrifft das EuGH-Urteil nur dann, wenn sie den Menschen einen freiwilligen Beitritt anbieten, für den sie selbst die Prämie bezahlen. Das heißt, ein Arbeitgeber, der die Prämien für die Krankenzusatzpolice seiner Angestellten zahlt, ist ebenso aus dem Schneider wie ein Verein, bei dem der Beitritt zur Gruppenunfallpolice für Mitglieder verpflichtend ist.
Bisher waren Gruppenversicherungen eine bequeme Angelegenheit
"Soweit es um die kostenfreie Aufnahme der eigenen Mitarbeiter in einen Gruppenvertrag zur betrieblichen Unfall-, Kranken- oder Risikolebensversicherung geht, könnten die Unternehmen durch das EuGH-Urteil weniger stark betroffen sein als bei Gruppen-Policen, bei denen der Beitritt von Mitarbeitern oder Dritten einen Teilaspekt des Geschäfts darstellt", erklärt Knut Bruckbauer vom Gesamtverband der versicherungsnehmenden Wirtschaft, der die Industrie in Versicherungsfragen vertritt.
Da die Gruppenversicherung bisher eine bequeme Angelegenheit war - das Unternehmen konnte die strengen Vermittlerpflichten vermeiden, der Versicherer hatte nur einen einzigen Rahmenvertrag zu verwalten - hat sich das Modell auch im Geschäft mit Privatkunden etabliert. "Man findet es eigentlich überall", erklärt Gunbritt Kammerer-Galahn, Leiterin der Versicherungsrechtspraxis bei der Kanzlei Taylor Wessing in Düsseldorf. So sind viele Restschuldpolicen, die Banken Kunden zur Absicherung von Krediten verkaufen, als Gruppenversicherungen organisiert.
Gleiches gilt häufig auch für Elektronikversicherungen, die Kunden mit dem Kauf ihres Handys erwerben, Glasbruchversicherungen, die sie zusammen mit neuen Brillen abschließen, oder Reisepolicen, die ihnen mit der Flugbuchung angeboten werden. Auch Autovermietungen, die zur Wagenmiete noch Insassenunfallversicherungen offerieren, greifen dafür gern auf das Instrument der Gruppenpolice zurück.
Policen könnten nun teurer werden
Es ist fraglich, ob Unternehmen für diese Nebengeschäfte bereit sind, eine eigene Vermittlungsgesellschaft zu gründen, wenn sie nicht schon über eine solche Firma verfügen. Alternativ müssten sie ihren Versicherungsvertrieb einstellen oder können künftig nur noch als sogenannter Tippgeber aktiv sein. Die Tätigkeiten eines Tippgebers sind allerdings rechtlich eng definiert. Die Unternehmen dürften den Kunden lediglich die Adresse des Versicherers nennen, aber keine Verträge mehr vermitteln. Die Kundin oder der Kunde muss sich dann selbstständig um den Abschluss eines individuellen Vertrags mit dem Anbieter kümmern.
Dadurch könnten sich die Policen verteuern. Es bedeutet für die Versicherer mehr Verwaltungsaufwand, wenn sie sich um viele Einzelverträge statt nur einem Rahmenvertrag kümmern müssten. Zudem ist fraglich, ob sich viele Kunden nach dem Kauf ihres eigentlichen Produkts noch die Mühe machen, den vom Händler empfohlenen Versicherer zu kontaktieren.
Allerdings könnten Unternehmen und Vereinen auch die Versicherer beispringen. "In Betracht kommt auch eine Registrierung als gebundener Versicherungsvermittler durch den betreffenden Versicherer, der dann die vollständige Haftung für die Vermittlertätigkeit übernehmen muss", so Juristin Kammerer-Galahn. Ob die Versicherer dazu bereit sind, ist ungewiss.
Auf jeden Fall wird das Urteil auch die Versicherer in Erklärungsnot bringen. "Es ist damit zu rechnen, dass die Finanzaufsicht BaFin sich bei den Versicherern erkundigen wird, ob alle Partner, mit denen sie Gruppenversicherungen mit freiwilligem Beitritt abgeschlossen haben, auch über eine Vermittler-Erlaubnis verfügen", sagt sie.