Große Spekulanten (45):"Das Beste am Menschen ist die Gier"

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Oder sollte man nicht lieber von Sucht reden? Balzac, Zola, Oliver Stone und die Kulturgeschichte des schnellen Geldes.

Thomas Steinfeld

Der Spekulant hat eine eigene Literaturgeschichte. Sie beginnt im frühen neunzehnten Jahrhundert, im französischen Realismus, bei Honoré de Balzac und seinem Baron de Nucingen, und erstreckt sich über Fritz Langs Dr. Mabuse (1922), auch er ein Spekulant, über "Manhattan Transfer", den Roman von John dos Passos aus dem Jahr 1925, Michelangelo Antonionis Film "Liebe 1962" und Tom Wolfes Roman "Fegefeuer der Eitelkeiten" (1987) bis heute: als die Erzählung von Männern (und es sind fast ausschließlich Männer), die eine Gesellschaftsform, nämlich die kapitalistische, auf die krasseste Spitze treiben. Verwegen, rücksichtslos, unmoralisch setzten sie ihre Schritte auf ungesicherten Boden und tun die kühnsten Dinge - und keinem von ihnen bleibt der Erfolg treu.

"Gier funktioniert", sagt Gordon Gekko (gespielt von Michael Douglas) im Flim "Wall Street" (Foto: Foto: Kabel 1)

Und wie sollte das auch gehen? Sie sind ja keine Schatzbildner, die am Abend eines langen Arbeitstages in ihren Millionen baden und das Glück des absoluten Reichtums genießen, sondern Investoren auf der Jagd nach einem Fluchtpunkt, der immer weiter in die Ferne rückt, je greifbarer er zu sein scheint.

"Liegt im Blut"

Über den Spekulanten Saccard, den "Dichter der Millionen", die Hauptfigur in Émile Zolas Roman "Das Geld" aus dem Jahr 1891, dem achtzehnten der zwanzig Romane aus dem Zyklus der "Rougon-Macquart", heißt es im Buch: "Oh, verstehen wir uns recht, er liebt das Geld nicht wie ein Geizhals, der einen großen Haufen davon haben und in seinem Keller verstecken will. Nein! Wenn es nach seinem Willen überall hervorsprudeln soll, wenn er es aus jedweder Quelle schöpft, so weil er sehen möchte, wie es ihm in Strömen zufließt, und wegen all der Genüsse, die es ihm verschafft: Luxus, Vergnügen, Macht . . . Was wollen Sie, das liegt ihm im Blut."

Und so erhebt sich Saccard aus der Armut, in die er nach einer falschen Spekulation geraten war, gründet eine Bank, die als katholisches Unternehmen Jerusalem für die Christenheit zurückerobern soll, kauft und betrügt, kauft und betrügt - bis er gezwungen wird, seine eigenen Aktien zu kaufen, und die Bank einer anderen, größeren Spekulation zum Opfer fällt, während er selbst an einem anderen Ort, in einem anderen Land neuen Geschäften nachgeht.

Es ist sonderbar, wie wenig sich in hundert Jahren geändert zu haben scheint. In "Wall Street", Oliver Stones berühmtem Film aus dem Jahr 1987, hält der von Michael Douglas gespielte Spekulant Gordon Gekko eine Ansprache vor den Aktionären einer Firma, deren Management er gekündigt sehen möchte.

Gekko tritt dabei auf wie ein Laienpastor, ein Erweckungsprediger, der eine frohe Botschaft zu verkünden hat: "Gier ist gut, Gier ist richtig. Gier funktioniert. Gier schafft Klarheit, Gier trennt das Wichtige vom Unwichtigen, Gier ergreift das Wesen der Zukunft. Gier, in all ihren Formen - als Gier nach Leben, nach Geld, nach Liebe, nach Wissen - hat das Beste im Menschen hervorgebracht. Und Gier, Sie werden sich noch an meine Worte erinnern, wird nicht nur diese Firma, sondern auch noch ein anderes angeschlagenes Unternehmen retten, nämlich die Vereinigten Staaten."

Und auch dieses Mal kommt es, wie es kommen muss: Ein Schlauerer, Durchtriebenerer kommt, von unerwarteter Seite, und auch wenn dieser selbst für sein Mittätertum büßen muss, so nimmt er den Mächtigen doch mit in den Untergang, das heißt: ins Gefängnis. Auch hier ist eine Fortsetzung gewiss.

Seit nun mehr als zwanzig Jahren dient, so heißt es oft, Gekko den leibhaftigen Spekulanten an der Börse, den Managern von Hedgefonds und Private-Equity-Firmen als Idol - der Sieg von Moral und Gerechtigkeit, von Polizei und Staatsanwaltschaft am Ende des Films interessiert sie nicht, er wird als die Zutat der Kunst zum wirklichen Leben behandelt.

Und das ist merkwürdig, denn Gekko mag in seiner Rede von der Gier, die längst in die kulturelle Grundausrüstung der jüngsten Zeiten eingegangen ist, seine eigene Wahrnehmung von sich selbst richtig beschreiben, vor allem im Hinblick auf die erhöhte Geistesgegenwart, die in der Gier eingeschlossen ist. Das aber macht die Beschreibung noch nicht stimmig. Denn die Gier als tiefsten Beweggrund nicht nur des Spekulanten, sondern auch der Finanzwirtschaft insgesamt zu behandeln heißt, das Motiv in der Psychologie, in der persönlichen Anlage suchen zu wollen.

Teil eines Systems

So, wie es Émile Zola radikaler noch mit dem Satz tat: "Das liegt ihm im Blut." Für die Figur selber, für Saccard oder Gekko, hat dieses Argument zwei Folgen: Sie wird für ihr Tun entschuldigt, und es wird ihr die letzte Zurechnungsfähigkeit dafür abgesprochen.

Für denjenigen, der das Urteil "Gier" über einen anderen ausspricht, kommt eine dritte Folge hinzu: Herablassend weist er den Figuren ein psychologisches Defizit zu, ohne selbst irgendetwas von ihren Geschäften verstehen zu müssen. Deswegen ist es so dumm, die gegenwärtige Wirtschaftskrise auf die Gier von Spekulanten - und das heißt: einzelnen Menschen - zurückführen zu wollen. Tatsächlich hat sie längst etwas Systemisches.

Zola ist ein klügerer Autor als Oliver Stone, und er ist auch klüger als der amerikanische Romancier William Gaddis, der in seinem Roman "JR" aus dem Jahr 1972 einen elfjährigen Jungen, der nicht einmal richtig rechnen kann, ein Finanzimperium zusammenkaufen und vernichten lässt - nein, Gaddis schreibt eine Persiflage, aber es gibt hier nichts zu lachen, weil die Realität in Geldfragen stets unwahrscheinlicher ist als jeder Scherz. In welchem Maße das gilt, ist daran zu erkennen, dass Zola den Helden Saccard seine "Banque Universelle" als katholisches Unternehmen gründen und davon träumen lässt, mit dem erwirtschafteten Gewinn den Papst in Jerusalem, der Heiligen Stadt, regieren zu lassen.

Denn ist es nicht so, dass das Geld nicht nur die Menschen, sondern die ganze Welt in einem einzigen Prinzip zusammenfasst? Alles mit allem verbindet, alles entgrenzt, radikale Vergesellschaftung betreibt, durch die Kraft einer Abstraktion, nämlich der Idee vom universalen Tauschwert? Und dass es nur eine metaphysische Instanz gibt, die es in Macht und Wucht mit dem Geld aufnehmen könnte: der christliche Gott? Und dass Geld Heil und Rettung verspricht, bis man es hat und der Punkt erreicht ist, den man sich als Erlösung, als stehendes Jetzt, vorstellt? Jerusalem und der absolute Reichtum - das ist nicht nur ein ähnlicher, das ist derselbe Gedanke, auch wenn er das eine Mal christlich und das andere Mal kapitalistisch daherkommt.

Denn der Augenblick des Habens steht nicht still, worauf das Versprechen in sich zusammensinkt und mehr Geld benötigt wird, um denselben Effekt zu erreichen. Gier ist also das falsche Wort für das, was die Menschen in Zeiten des Finanzkapitals antreibt. Sucht ist eine viel bessere Bezeichnung, weil sie sich weniger auf die persönliche, psychologische Disposition bezieht, sondern materiell wird und von Stoffwechseln und physischer Abhängigkeit spricht. Darin eingeschlossen sind alle Entzugserscheinungen, von Nervosität und Schlaflosigkeit bis hin zu tiefen Depressionen.

Alle Gier ist irgendwann erloschen, ob nun befriedigt oder nicht. Die Sucht hingegen macht weiter, genauso wie die Globalisierung nicht aufhört, sondern immer weiter machen muss, einem immer fernen und als glücklich vorgestellten Ziel entgegen. In dem Maße, wie die Globalisierung zur Sucht aller geworden, also in die Grundlagen der Gesellschaft eingegangen ist, muss man sie als etwas Theologisches, ja Messianisches begreifen: als letzte, höchste Zuflucht der Utopie. Und Utopien machen süchtig, genauer: Jede Sucht zielt auf eine Utopie.

"In jedem Jahrhundert muss die Menschheit nachsitzen", erklärte der Philosoph Walter Benjamin in den dreißiger Jahren. Er meinte damit, dass die Kunst im neunzehnten Jahrhundert schon alle Erschütterungen der menschlichen Existenz behandelt hatte, die erst im zwanzigsten Jahrhundert Wirklichkeit und zur allgemeinen Erfahrung wurden. Zolas Erfindung von der "Banque Universelle" ist eine solche alte Idee, deretwegen die Menschheit lange nachsitzen musste: Diese Idee eines weltumspannenden, alle Elemente der Gesellschaft mobilisierenden Geld-Kreuzzugs, der, wie sein historisches Vorbild, sein Ziel nie erreicht, ist gut hundert Jahre nach Zola zur historischen Erfahrung geworden.

© SZ vom 16.12.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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