Großbritannien:Vertrauen verloren

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Spiegelbild: Arbeiter in der größten Autofabrik des Vereinigten Königreichs, im Nissan-Werk in Sunderland. Der britische Wirtschaftsminister nennt die Kehrtwende des japanischen Konzerns enttäuschend. (Foto: Oli Scarff/AFP)

Als Nissan seinem britischen Werk mehr Arbeit verspricht, jubelt die Regierung. Nun machen die Japaner einen Rückzieher. Der Brexit könnte die Branche massiv belasten.

Von Björn Finke, London

Premierministerin Theresa May nannte es einen "Vertrauensbeweis" für Großbritannien. Die Arbeiter in der Fabrik jubelten, als der Beschluss verkündet wurde: Im Oktober 2016, vier Monate nach dem EU-Referendum, entschied der japanische Autohersteller Nissan, dass das Werk in Sunderland, im Norden Englands, in Zukunft den Geländewagen X-Trail fertigen soll. Außerdem sollte die größte Fahrzeugfabrik des Königreichs weiterhin das Erfolgsmodell Qashqai bauen. May hatte dem damaligen Konzernchef Carlos Ghosn kurz vorher bei einem Treffen im Amtssitz 10 Downing Street versichert, dass der Brexit keine Nachteile haben werde.

Doch nun, gut sieben Wochen vor dem Austrittstermin, legt Nissan eine rasante Wende hin. Zwar bleibt der Qashqai in dem Werk mit 7000 Beschäftigten, aber der X-Trail wird nicht im Königreich gebaut werden, wie das Management am Wochenende beschloss. Hauptgrund sei die sinkende Nachfrage nach Dieselautos, hieß es. Zugleich kritisierte Europa-Chef Gianluca de Ficchy, dass "die fortdauernde Unsicherheit über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU nicht hilfreich" sei. Wirtschaftsminister Greg Clark nannte die Entscheidung "eine große Enttäuschung".

Nissans Notbremsung führt nicht zu Entlassungen. Allerdings werden nun keine neuen Jobs geschaffen, und das in einer der ärmsten Gegenden des Königreichs. Genau wie viele andere arme Industrieregionen stimmte Sunderland beim EU-Referendum für den Brexit, mit 61 Prozent. Manche Bürger dürften das jetzt bereuen.

Die Manager "sitzen auf ihren Händen", sagt der Chef des Industrieverbands

Die Autobranche hat in den vergangenen Jahren eine der wenigen Erfolgsgeschichten der britischen Industrie geschrieben. Das Königreich ist viertgrößter Fahrzeugproduzent Europas, allein in Sunderland laufen jährlich 440 000 Autos vom Band. Doch kaum eine andere Branche leidet auch so sehr unter der Ungewissheit durch den Brexit. Im vergangenen Jahr investierten die Unternehmen nur 589 Millionen Pfund auf der Insel, fast die Hälfte weniger als 2017. Im Jahr 2015 hatten die Konzerne noch 2,5 Milliarden Pfund in ihre britischen Standorte gesteckt. Mike Hawes, der Chef des Branchenverbands SMMT, sagt, die Manager "sitzen auf ihren Händen" und schöben Investitionen auf, bis Klarheit über die künftigen Handelsbeziehungen zur EU herrscht. Die Ungewissheit habe "Produktion, Investitionen und Jobs bereits enorm geschadet".

Die Werke im Königreich liefern gut 40 Prozent ihrer Autos in andere EU-Staaten, weitere zwölf Prozent gehen in Länder, bei denen Großbritannien von Handelsverträgen profitiert, welche die EU abgeschlossen hat. Würde das Königreich am 29. März ohne Abkommen austreten, fiele die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich für Firmen und Bürger wenig ändern soll. Stattdessen würden gemäß der Regeln der Welthandelsorganisation WTO Zölle eingeführt. Und die liegen bei zehn Prozent für Autos - viel Geld in einer Branche mit schmalen Gewinnmargen.

Die Zölle für Zulieferteile wären geringer. Allerdings könnte solch ein ungeregelter Brexit zu Chaos und Staus an den Häfen führen, etwa in Dover und Calais. Die sind nicht darauf vorbereitet, als Zollgrenze zwischen der EU und der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt zu dienen. Und Verzögerungen würden das sogenannte Just-in-Time-Modell der Werke gefährden. Die Fabriken halten oft nur Teile für wenige Produktionsstunden auf Lager. Dafür bringen jeden Tag mehr als 1100 Lastwagen Teile aus EU-Staaten in britische Werke.

Branchenlobbyist Hawes sagt, ein Brexit ohne Vertrag würde in seiner Industrie zu "bleibender Verwüstung" führen. Als Wirtschaftsminister Clark nun mit Nissan über das Aus für den X-Trail sprach, bekam er Ähnliches zu hören: So ein Chaos-Brexit mit Zöllen und Staus an den Häfen würde die Zukunft des Werks in Sunderland gefährden, hieß es. Clark und andere wirtschaftsfreundliche Minister drängen Premierministerin May deswegen dazu, einen Brexit ohne Vertrag bald auszuschließen. Dies soll die schlimmsten Sorgen der Unternehmer zerstreuen.

Vor drei Wochen hatte das britische Parlament das Austrittsabkommen, das London und Brüssel abgeschlossen haben, abgelehnt. May will in dieser Woche mit der EU über Änderungen bei dem Vertrag reden und ihn dann noch einmal den Abgeordneten präsentieren. Allerdings sperrt sich die EU gegen neue Verhandlungen. Daher droht ein Austritt ohne Vertrag - oder der Brexit müsste verschoben werden.

May will einen Chaos-Brexit verhindern, doch zugleich möchte sie die Option nicht ausschließen, um eine bessere Verhandlungsposition zu haben. In anderthalb Wochen dürfen aber die Parlamentarier wieder über eigene Wünsche zum Vorgehen abstimmen. Es wird erwartet, dass ein Antrag vorgelegt wird, der die Regierung per Gesetz zwingen würde, die EU um eine Verschiebung des Austritts zu bitten. Ob er angenommen wird, gilt als offen.

Die Unsicherheit belastet nicht nur die Autoindustrie, sondern auch viele andere Branchen. Die Wirtschaftsprüfer von Deloitte befragen regelmäßig Finanzvorstände britischer Konzerne. Bei der jüngsten Umfrage, die am Montag veröffentlicht wurde, kürten die 110 teilnehmenden Manager den Brexit zum größten Risiko für ihr Geschäft. Vier von fünf Vorständen erwarten demnach Nachteile durch den EU-Austritt.

Der Brexit könnte die Briten also teuer zu stehen kommen.

© SZ vom 05.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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