Großbritannien:Läuft doch

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Es scheint paradox, aber die britische Wirtschaft wächst und schafft trotz Brexit Jobs. Dennoch sind die Wirtschaftsführer besorgt - weil die Verhandlungen stocken.

Von Björn Finke, London

Die Wirtschaftsführer geben sich besorgt: Das Stocken der Verhandlungen über den Brexit sei "extrem beunruhigend", sagte Emma Marcegaglia, Chefin von Business-Europe, der Dachorganisation europäischer Arbeitgeberverbände. Die Italienerin traf sich Anfang der Woche in London mit Premierministerin Theresa May und Brexit-Minister David Davis. Begleitet wurde sie von Vertretern der Mitgliedsverbände, auch von BDI und BDA aus Deutschland. Die Lobbyisten drängten auf schnelle Fortschritte bei den Gesprächen Londons mit Brüssel, weil die Unsicherheit die Unternehmen belaste.

Ganz ähnlich war die Botschaft von Vertretern der britischen Autoindustrie, die dem Wirtschaftsausschuss des Parlaments ihr Leid klagten. Aston-Martin-Vorstand Mark Wilson sagte, ohne Handelsvertrag zwischen EU und Großbritannien müssten "wir unsere Produktion stoppen".

Der anstehende Austritt der Briten treibt Manager auf beiden Seiten des Ärmelkanals um. Doch bisher haben die Querelen der Konjunktur im Königreich wenig anhaben können. Die Arbeitslosenquote verharrte im September bei 4,3 Prozent, berichtete das Statistikamt am Mittwoch - so niedrig war die Quote zuletzt in den Siebzigerjahren. Und die Wirtschaftsleistung stieg im abgelaufenen Quartal um 0,4 Prozent. Zwar wuchs die deutsche Wirtschaft doppelt so schnell, aber 0,4 Prozent sind auch kein Krisenwert.

Die Lage ist also gut, doch die Warnungen der Manager, was die Zukunft bringen könnte, werden immer zahlreicher und immer drängender. Führen die Brexit-Verhandlungen nicht zum Erfolg, könnte es im Rückblick heißen, dass Großbritanniens solide Wirtschaftsdaten Ende 2017 bloß die Ruhe vor dem Sturm waren.

Konkret fordern die Firmenvertreter, dass sich London und Brüssel bis Ostern auf eine mehrjährige Übergangsphase nach dem Brexit einigen. Beim Austritt im März 2019 würde sich dann für Unternehmen erst einmal nicht viel ändern. Diese Phase würde andauern, bis die britische Regierung und die EU den endgültigen Handelsvertrag abgeschlossen haben.

Die Manager brauchen bald Gewissheit, dass es so eine Regelung geben wird. Ansonsten müssen sie in den kommenden Monaten anfangen, ihre Notfallpläne umzusetzen. Banken werden Abteilungen von London in EU-Staaten verlagern, damit sie auch nach März 2019 Kunden auf dem Festland problemlos bedienen können. Industriebetriebe werden Investitionen von britischen Fabriken zu Werken im Ausland umleiten, wenn sie die Einführung von Zöllen befürchten müssen.

Die anderen EU-Staaten sind der mit Abstand wichtigste Exportmarkt für die Unternehmer Ihrer Majestät. Und schon jetzt schadet die Unsicherheit über die Handelsbeziehungen dem Land. Bei einer Umfrage des britischen Wirtschaftsverbands CBI gaben 40 Prozent der Firmen an, der Brexit wirke sich negativ auf ihre Investitionspläne aus. In der extrem exportabhängigen Auto-Industrie deuten Zahlen für das erste Halbjahr darauf hin, dass die Konzerne dreiviertel weniger investieren als 2015.

Trotzdem wächst die Wirtschaft bislang munter weiter - um 1,8 Prozent im vergangenen Jahr und Schätzungen zufolge um 1,6 Prozent in diesem. Für deutsche Verhältnisse sind das solide Daten, aber in Großbritannien wuchs die Wirtschaft meist um mehr als zwei Prozent im Jahr. Doch Grund zur Sorge sind 1,6 Prozent gleichfalls nicht. Dass die Ungewissheit der Konjunktur nicht stärker geschadet hat, liegt an den Verbrauchern. Die Bürger ließen sich von den Querelen lange nicht die Lust am Shoppen rauben und stützten damit die Wirtschaft.

Arbeitnehmer können sich heute weniger leisten als vor zehn Jahren

Inzwischen allerdings belastet die gestiegene Inflation die Briten. Seit dem EU-Referendum verlor das Pfund deutlich an Wert, und das verteuert Einfuhren, etwa von Lebensmitteln. Im vergangenen Monat lagen die Preise darum drei Prozent höher als im Vorjahreszeitraum. Die Währungshüter der Bank of England streben maximal zwei Prozent Inflation an; sie hoben Anfang des Monats die Zinsen an, erstmals seit 2007. Manche Haushalte schieben wegen der höheren Preise nicht so dringende oder teure Anschaffungen auf und fallen als Stütze der Konjunktur weg.

Die Inflation schmerzt umso mehr, weil schon seit der Finanzkrise die Gehälter in den meisten Jahren weniger kräftig als die Preise zugelegt haben. Britische Arbeitnehmer können sich heute weniger leisten als vor zehn Jahren. Volkswirte erwarten, dass die Wirtschaft wegen der Probleme der Verbraucher 2018 langsamer wachsen wird. Weniger Wachstum bedeutet weniger Steuereinnahmen: schlechte Nachrichten für Schatzkanzler Philip Hammond, der am kommenden Mittwoch seinen Haushalt vorstellt. Es sind turbulente Wochen in Westminster.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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