Ich habe größten Respekt vor dem fähigen, nachdenklichen Ökonomen Jeffrey Sachs. Trotzdem glaube ich, dass er die historische Realität nicht richtig sieht. Sein Vergleich mit Deutschland in der Weimarer Republik ist schief. Erstens litt Deutschland unter der Last von Reparationsforderungen, während Griechenland bislang in riesigem Umfang Kredithilfen von anderen Ländern bekam und weiterhin bekommen soll. Zweitens lief Deutschland damals in die Katastrophe, weil es nicht abwerten durfte. Ein Schuldenschnitt würde nur die Symptome der griechischen Krise beseitigen, doch die Arbeitslosen nicht von der Straße bringen. Das kann nur durch einen Austritt aus der Währungsunion gelingen.
Druck auf Deutschland wie vor fünf Jahren
Den Druck, der durch Artikel wie jenen von Jeffrey Sachs und vielen anderen derzeit gegenüber Deutschland aufgebaut wird, hat man in ähnlicher Form schon vor fünf Jahren erlebt. Damals sträubte sich Deutschland, einer europäischen Rettungsarchitektur zuzustimmen, weil es Angst hatte, dass ihm dadurch die Schulden der Südländer ans Bein gebunden werden würden. Das war das Schreckensszenario, das Deutschland mit dem Beistandsverbot des Maastrichter Vertrages (Artikel 125 AEUV) hatte ausschließen wollen und weshalb es dieses Verbot zur Bedingung für die Aufgabe der D-Mark machte. Als aber der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy im Mai 2010 zum Äußersten ging und mit dem Austritt Frankreichs aus der Währungsunion drohte, knickte Angela Merkel ein. Druck gab es auch im Frühsommer 2012, als es darum ging, die Rettungsarchitektur durch den dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und eine Bankenunion zu verfestigen. Damals gab es in der internationalen Presse eine regelrechte Treibjagd auf die Kanzlerin, bis sie nachgab.
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Nun kommt es, wie es kommen musste. Nachdem die privaten Anleger, die in Griechenland unterwegs waren, sich allesamt aus dem Staub gemacht und ihre griechischen Schuldpapiere der Staatengemeinschaft übertragen haben, kommt der Ruf nach einem Schuldenerlass. Der internationale Druck wird anschwellen, bis Deutschland wieder nachgibt.
Wer waren eigentlich die privaten Anleger, die gerettet wurden? Vor allem die deutschen Banken, wie Sachs meint? Weit gefehlt. Vorn lagen die französischen Banken, die bis zum Frühjahr 2010, als die Rettungsschirme beschlossen wurden, 53 Milliarden Euro an die privaten und öffentlichen Sektoren Griechenlands verliehen hatten. Erst an zweiter Stelle folgten die deutschen Banken mit 33 Milliarden Euro, danach die US-amerikanischen mit zehn Milliarden Euro und die britischen mit neun Milliarden Euro.
Es stimmt nicht, wie Sachs behauptet, dass das Rettungsgeld nur, oder auch nur vornehmlich, der Rettung der Banken diente. Bis zum Juni 2015 hat Griechenland 344 Milliarden Euro an Krediten von der EZB, dem IWF und der Staatengemeinschaft erhalten. Das waren 192 Prozent des BIP von 2014 oder rund 83 000 Euro pro griechischem Haushalt. Von dem Geld wurde ein Drittel verwendet, um die Auslandsschulden der griechischen Volkswirtschaft zu bezahlen, die aus einem überhöhten Konsum der Vorkrisenjahre resultierten. Ein Drittel diente der Finanzierung des laufenden Lebensstandards der griechischen Bevölkerung während der Krise ab 2008, konkret des Leistungsbilanzdefizits, und ein Drittel der Finanzierung der Kapitalflucht der Griechen selbst. Aber das Argument, die Deutschen hätten im Wesentlichen sich selbst gerettet, ist zu süffig, als dass man es sich durch die Fakten kaputt machen lassen will. Es geht jetzt ums Weichklopfen für den Schuldenschnitt.
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Ich war von Anfang an gegen die Rettungsarchitektur, weil ich wusste, dass daraus nichts als Streit entstehen würde, denn Freunde, denen man Geld leiht, sind Freunde gewesen. Der große Fehler war, dass sich der deutsche Staat hat breitschlagen lassen, an die Stelle der privaten Gläubiger Griechenlands zu treten. Damit hat er sich dem natürlichen Streit zwischen Gläubigern und Schuldnern ausgesetzt und ihn zu einem Disput zwischen den Völkern gemacht. Ohne die Übernahme der griechischen Schuldpapiere durch die Staatengemeinschaft, insbesondere durch Deutschland, hätten Yanis Varoufakis und Alexis Tsipras, oder wer sonst an der Macht gewesen wäre, ihre sehr emotionalen Angriffe gegen die privaten Investoren aus aller Welt richten können, aber nicht gegen Angela Merkel, Sigmar Gabriel und Wolfgang Schäuble. Die Staaten hätten sich nicht ineinander verbeißen können.
Deutschland gilt in Griechenland heute als größter Feind des Landes
Das heißt nicht, dass man Griechenland nicht hätte helfen sollen. Der deutsche Staat hätte dem griechischen Staat Geld zur Bekämpfung der humanitären Katastrophe schenken sollen, ohne Bedingungen und ohne Rückforderungen. Andere hätten es ebenso tun können. Nicht einen Marshallplan, sondern gleich mehrere hätte man gewähren können. Eine Hilfe aus freien Stücken wäre Deutschland wesentlich billiger gekommen und hätte die Freundschaft mit Griechenland gefestigt.
Griechenland hat während der Krise bislang den Gegenwert von 37 Marshall-Plänen bekommen, wenn man davon ausgeht, dass Deutschland in der Summe der Jahre über den Marshall-Plan Hilfen bekam, die 5,2 Prozent des BIP von 1952 betrugen. Davon kamen rechnerisch zehn von Deutschland.
Die Rettungsautomatik, der man stattdessen zustimmte, hat eigentumsähnliche Erwartungen geschaffen, die die Geberländer immer erneut ins Unrecht setzen, wenn sie nicht so viel geben, wie verlangt wird. Er ließ die perverse Situation entstehen, dass Deutschland Griechenland bis Ende Juni über bilaterale Kredite, seine Mitgliedschaft in der EZB und den fiskalischen Rettungsschirmen für 92 Milliarden Euro, immerhin etwa 22 000 Euro pro griechischem Haushalt, die größte Kreditsumme aller Länder zur Verfügung gestellt hat, und doch heute in Griechenland als der größte Feind des Landes gilt.
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Man fragt sich im Übrigen, warum eigentlich der Schuldenschnitt so wichtig ist, wo doch Griechenland fast keine Zinsen mehr zahlt. Da dem Land ein Schuldenschnitt von 105 Milliarden Euro gewährt wurde und die Zinsen für wichtige Rettungskredite bei Null liegen, betrug die Zinsbelastung des griechischen Staates im Jahr 2014 nur noch 3,9 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes. Das entspricht einem Zinssatz von nur noch 2,2 Prozent.
Die ständige Neuverschuldung hilft niemandem
Der Grund kann nur daran liegen, dass sich Griechenland nach einem weiteren Schuldenschnitt wieder neu verschulden kann, zunächst beim IWF und dann vielleicht auch im privaten Sektor. Die Steuerzahler der noch gesunden Länder der Eurozone können diese Schulden dann wieder mit Rettungskrediten ablösen, die sie ein paar Jahre später erlassen müssen. So kann die Sache im Grunde endlos weitergehen. Nur: Wohin soll das führen? Jobs entstehen so nicht. Es wird nur der Staat mitsamt der Nomenklatura, die an ihm hängt, entlastet. Die ständige Neuverschuldung hilft weder den alten noch den jungen Arbeitslosen, die inzwischen mehr als die Hälfte der jungen Erwerbspersonen ausmachen.
Auch ich bin für einen Schuldenschnitt, denn nachdem der europäische Rettungsfonds EFSF am 3. Juli 2015 offiziell die Insolvenz des griechischen Staates verkündet hat, ist es höchste Zeit für die staatlichen Gläubiger Griechenlands, der Wahrheit ins Auge zu schauen. Nur muss nach diesem Schnitt auch die Wettbewerbsfähigkeit der griechischen Arbeitnehmer wiederhergestellt werden, damit das Land auf eigenen Beinen stehen und ohne neuen Kredit auskommen kann.
Aber da hapert es, weil die Arbeitnehmer in der inflationären Kreditblase, die der Euro dem Land brachte, viel zu teuer geworden sind. Die kreditfinanzierten Lohnerhöhungen der Vergangenheit sind heute der Klotz am Bein Griechenlands. So liegen im verarbeitenden Gewerbe die griechischen Lohnkosten je Stunde im Schnitt bei 14,70 Euro, während sie in den benachbarten EU-Ländern Bulgarien und Rumänien sowie in der Türkei zwischen 3,20 Euro und 5,50 Euro je Stunde betragen. Selbst Polen hat Lohnkosten, die nur halb so hoch sind. Kein Wunder, dass Griechenland bei Standortentscheidungen internationaler Investoren überhaupt nicht mehr vorkommt.
So wichtig die Forderung von Jeffrey Sachs für einen Schuldenschnitt ist: Ohne einen Austritt Griechenlands aus der Währungsunion, der allein die Fundamentalprobleme des Landes lösen kann, ist sie sinnlos. Das sagen nicht nur Ökonomen wie Joseph Stiglitz, Paul Krugman oder Yanis Varoufakis, sondern auch die ehemaligen Chefvolkswirte der EZB, Jürgen Stark und Otmar Issing. Die Abwertung könnte virtuell über Nacht geschehen, indem alle Lohn-, Preis-, Miet- und Kreditkontrakte auf Drachmen umgestellt werden, während man die Euro-Banknoten bis zum Druck von Drachme-Noten für Bargeschäfte verwenden kann. Die Abwertung würde die Importe verteuern und die Verbraucher veranlassen, wieder heimische Ware zu kaufen, was der Landwirtschaft, der Nahrungsmittelverarbeitung und der Textilindustrie sofort einen Schub gäbe. Außerdem würde der Tourismus boomen. Reiche Griechen, die ihr Geld ins Ausland gebracht haben, kämen zurück, um die billiger gewordenen Immobilien zu kaufen. Das würde einen Bauboom wie einst in Italien nach der Lira-Abwertung im Jahr 1992 erzeugen.
Die Währungsabwertung wäre der entscheidende Unterschied zu Deutschland in der Weimarer Republik. Deutschland musste seine Reparationen nach dem Dawes-Plan in Reichsmark leisten, die es gegenüber dem Goldstandard nicht abwerten durfte. Anders als England, das 1931 austrat, war es im Währungssystem gefangen. Das zwang Reichskanzler Heinrich Brüning zu seiner Notverordnungspolitik mit einer internen Abwertung durch Preis- und Lohnsenkungen. Die Preise fielen von 1929 bis 1933 um 23 Prozent, und die Löhne um 27 Prozent. Es entstand eine Massenarbeitslosigkeit, die Deutschland an den Rand des Bürgerkriegs trieb und Hitler an die Macht brachte.
Die Lehre aus dieser Geschichte ist nicht nur, dass man Griechenland keine finanziellen Lasten auferlegen sollte wie seinerzeit Deutschland. Das hat ohnehin niemand vor. Die wirkliche Lehre ist, dass man Griechenland nicht im Goldstandard halten sollte, auch wenn er heute Euro heißt.