Gipfelstürmer:Ferndiagnosen

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Zum dritten Mal zeichnet der Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung mit dem Start-up-Wettbewerb „Gipfelstürmer“ die besten Gründer aus Deutschland aus. Die Ausschreibung läuft bis zum 31. August. Eine Jury aus Mitgliedern der SZ-Wirtschaftsredaktion wählt aus allen Bewerbern die sechs Finalisten aus. Diese dürfen im November am SZ-Wirtschaftsgipfel in Berlin teilnehmen und dort ihre Firma vorstellen. Die Teilnehmer des Gipfels küren den Sieger. Einzelheiten und Bewerbungen: www.sz-wirtschaftsgipfel.de/gipfelstuermer. SZ (Foto: SZ-Grafik)

Das Münchner Start-up Teleclinic vermittelt ärztliche Behandlungen über Telefon und Internet. Dass das Fern­behandlungsverbot gelockert wurde, hilft dabei.

Von Felicitas Wilke, München

Der Weg zum Arzt der Zukunft sieht so aus, wie man das kennt. In einem Altbau unweit des Münchner Hauptbahnhofs führen leicht knarzende Treppen in den dritten Stock, vorbei an Kanzleien und Büros. Eine Hausarztpraxis würde hier gut hineinpassen. Doch bei Teleclinic sitzen nur wenige Sprechstundenhilfen oder Ärzte. Hier bringen insgesamt 30 Mitarbeiter, darunter Juristinnen und IT-Experten, Patienten und Mediziner auf neuen Wegen zusammen. Sie stellen eine Plattform bereit, die bewirkt, dass Patienten im Bett bleiben können, wenn sie bestimmte Beschwerden haben. Die insgesamt 250 Ärzte, die in ganz Deutschland verteilt an ihren Schreibtischen sitzen, untersuchen sie aus der Ferne.

Als der Wirtschaftsinformatiker Patrick Palacin, die Juristin Katharina Jünger und der Radiologe Reinhard Meier das Unternehmen vor drei Jahren gründeten, stießen sie mit ihrer Geschäftsidee auf rechtliche Probleme. Doch neuerdings ist das Thema Telemedizin en vogue. Beim Bundesärztetag im Mai stimmte die Mehrheit der Delegierten dafür, das bislang geltende ausschließliche Fernbehandlungsverbot zu lockern.

Die Landesärztekammern in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein haben ihre ärztliche Berufsordnung bereits geändert. Dort dürfen Ärzte ihre Patienten inzwischen aus der Ferne nicht mehr nur beraten, sondern auch behandeln - und zwar auch dann, wenn die Patienten vorher noch nie persönlich in der Praxis gewesen sind. Konkret heißt das: Bislang durfte eine Ärztin einem Mann mit tränendem Auge aus der Ferne nur raten, es mit lauwarmem Wasser auszuspülen und zum Arzt zu gehen, wenn es nicht besser wird. Die Diagnose Bindehautentzündung durfte sie nicht stellen, wenn der Patient vorher noch nie in der Praxis war. Geschweige denn ein Rezept ausstellen.

Eine Regelung, die längst überholt ist, findet Palacin. "In Zeiten, in denen viele Landärzte ihre Praxen schließen müssen, weil sie keine Nachfolger finden, kann man den Patienten nicht zumuten, eine halbe Stunde bis zum nächsten Arzt zu fahren." Auch für Menschen mit chronischen Krankheiten wie Bluthochdruck biete es sich an, den regelmäßigen Gesundheitscheck über den Laptop zu erledigen. "Der Patient misst seinen Blutdruck selbst, und der Arzt kann daraufhin ein neues Rezept ausstellen", sagt Palacin. Grenzen gebe es freilich: Nämlich etwa dann, wenn ein Patient abgetastet werden müsse, um eine Diagnose zu stellen.

Im Zuge eines Pilotprojekts in Baden-Württemberg dürfen die Ärzte privat versicherte Patienten teilnehmender Krankenkassen seit Anfang des Jahres über den Bildschirm oder den Telefonhörer behandeln. Gleiches gilt seit zwei Monaten auch für gesetzlich Versicherte in den Modellregionen Stuttgart und Tuttlingen - mit einer Einschränkung: Aus rechtlichen Gründen dürfen die Ärzte den Kassenpatienten im Gegensatz zu den Privatversicherten keine Rezepte ausstellen.

"Es ist uns wichtig, niedergelassene Ärzte einzubeziehen", sagt Palacin. Viele von ihnen betreiben eine eigene Praxis und arbeiten zusätzlich für Teleclinic. Denn gerade in den Städten gebe es oft "Überkapazitäten in der ärztlichen Versorgung". Die Ärzte dort haben also Zeit, für Teleclinic zu arbeiten. Andere sind bereits im Ruhestand und verdienen sich ein Zubrot. Bezahlt werden sie von den teilnehmenden Kassen. Teleclinic wiederum bekommt von den Kassen eine Pauschale für seine Dienste. Das Start-up bringt Ärzte und Patienten über eine eigene Plattform zusammen. Ruft ein Patient mit Beschwerden beim Unternehmen an, nimmt eine medizinische Assistenz den Anruf entgegen und sucht den passenden Arzt für das Problem heraus. Er oder sie ruft dann zurück und behandelt den Patienten.

Sitzen die Patienten nicht in Baden-Württemberg oder Schleswig-Holstein, können sie sich weiterhin lediglich beraten lassen. Sind sie bei keiner der privaten Krankenkassen, die für diese Leistung aufkommen, müssen sie es selbst tun. Kosten: bis zu 30,59 Euro. Nur rund fünf Prozent der Patienten bezahlten die Beratung selbst, sagt Palacin. Darunter seien oft akute Fälle zu Tageszeiten, in denen es schwierig ist, einen Arzt zu kontaktieren. "In Deutschland sind es die Menschen einfach nicht gewohnt, medizinische Leistungen aus eigener Tasche zu bezahlen", sagt Palacin. Deshalb hofft er, dass auch die anderen Landesärztekammern bald ihre Berufsordnungen liberalisieren. Klar ist, dass Sachsen zum 1. September folgen wird. Wenn die gesetzlichen Krankenkassen künftig mehr Leistungen übernehmen, könnte das auch Kosten sparen, sagt Palacin. Denn die Notaufnahmen würden entlastet, wenn Patienten bestimmte Beschwerden telefonisch erläutern und abklären könnten, bevor sie abends oder am Wochenende ins Krankenhaus fahren.

Derzeit haben knapp 13 Millionen Versicherte kostenlosen Zugang zu den Leistungen von Teleclinic. Dass das ausschließliche Fernbehandlungsverbot kippt, bedeutet für das Münchner Start-up nicht nur eine große Chance, sondern auch zunehmenden Wettbewerb. Der Anbieter Kry, dessen Ärzte in Schweden schon seit 2015 Patienten online behandeln, hat den Zuschlag für ein Pilotprojekt für Selbstzahler in Baden-Württemberg erhalten. Das Ziel sei es, noch in diesem Jahr zu starten, sagt Cristina Koehn, die bei Kry neue Märkte erschließt. Auch etablierte Anbieter aus der Schweiz wie Medgate schielen auf den deutschen Markt. Doch Palacin hofft, dass sein Unternehmen davon profitieren kann, in Deutschland der Erste gewesen zu sein, der auf das lange schwierige Thema Telemedizin gesetzt hat. "Wir wollen die Position als Marktführer in Deutschland verteidigen", sagt er.

© SZ vom 28.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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